Ein Raum der documenta 8 im Museum Fridericianum ist entschieden zu klein. Selbst wenn das Kabinett die Dimensionen eines Saales hätte, wäre er wohl ständig bis auf den letzten Platz besetzt, Gemeint ist jener Raum, in dem der unterhaltsamste documenta-Beitrag gezeigt wird, in dem sich die Kunst von der heiteren Seite zeigt: Zu sehen ist ein Filmzyklus über Kettenreaktionen von den beiden Schweizern Peter Fischli und David Weiss.
Ein Reifen hoppelt eine liegende Treppenleiter runter, landet auf einem kleinen Wägelchen und
fährt auf diesem durch den Raum; auf dem Boden breitet sich ein Feuer aus, das kleine Raketen an dem Reifen entzündet, die ihn stoßweise weitertreiben. Auf diesem Weg schließlich wird eine Eisenrolle in Gang gesetzt, die eine andere Rolle anstößt, so daß eine auf ihr befestigte Flasche allmählich ihren Inhalt in ein auf einer Wippe stehendes Gefäß solange ergießt, bis die Wippe eine am anderen Ende aufgestellte brennende Kerze hochsteigen läßt, deren Flamme eine Zündschnur in Brand setzt
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Eine schier endlose Folge von komplizierten Aufbauten und umständlichen Konstruktionen
wird zur Kette, bei der ein Glied die rollende, rutschende, fallende, fließende, fliegende, schmelzende oder brennende Bewegung an das nächste weitergibt. Feuer, Wasser, Luft, Eis, Säure und Kraft treiben den Prozeß voran. Immer neue Ideen flammen auf. Ein mit äußerster Präzision ausbalanciertes Spektakel, das funktioniert und zugleich das Funktionale ins Absurde und ins Surreale umkippen läßt. Eine Video-Arbeit.
Seit 15 Jahren ist die Video- Kunst fester Bestandteil der documenten. Doch zum ersten Mal sind die Video-Arbeiten in einer documenta insgesamt mehr als nur ein paar Monitore, auf denen es flimmert oder austauschbare Filme zu sehen sind. Der Beitrag von Fischli/Weiss bezieht dabei eine Randposition, weil er sich aufs Erzählerische, aufs Filmische verlegt. Andere Video-Installationen sind zu regelrechten Skulpturen geworden.
Nam June Paik, von dem vor zehn Jahren ein eher verklärend-verführender Video-Dschungel zu sehen war, hat nun eine faszinierende Arbeit gestaltet, die noch einmal Joseph Beuys als überragende Gestalt lebendig werden läßt. Aus 44 Monitoren ist eine riesige Video-Wand gebaut, auf der sich eine ungeheure Bilddynamik entwickelt: Beuys bei einem öffentlichen Auftritt – die Bereiche zwischen Sprache und Geräusch erkundend, buchstabierend, zischend, röhrend, schreiend. Mal erscheint der Kopf klein im inneren Quadrat von 16 Monitoren, mal nimmt das Gesicht die gesamte Fläche ein, während rechts und links im Rhythmus brennende Bilder aufleuchten.
Die einzelnen Monitore sind keine Solisten mehr, sie sind zum fein abgestimmten Orchester geworden, zur dynamischen bildnerischen Einheit. Die gleiche Beobachtung gilt für einen der schönsten Räume dieser documenta, für Fabrizio Plessis im Apollo-Saal der Orangerie
geschaffene Installation Roma: In dem roten, nur schwach beleuchteten Raum steht in Hufeisenform eine Monitorreihe, durch die hindurch scheinbar Wasser fließt. Die Wasserbewegung setzt sich von einem Bildschirm zum anderen nahtlos und zwingend fort. Im Zentrum scheint in Abständen ein Stein ins Wasser zu fallen, der von einem darauf zu rollenden Förderband stammen könnte. Die gegen die Wände gelehnten Marmorplatten verstärken die Arbeitsatmosphäre im klassisch-barocken Raum.
In ähnlicher Weise überzeugen die Installationen von Ulrike Rosenbach (Or-phelia – romantisch-aufklärerische Anspielungen) sowie von Klaus vom Bruch (Coventry) und Ingo Günther (K4 [C31]) mit ihren politisch- bedrückenden Dimensionen.
Widersprüchliche, mitunter sogar widerwillige Gefühle provoziert die Video-Skulptur von Marie-Jo Lafontaine. Diese rhythmisierte, perfekt ausgeleuchtete Studie eines Mannes beim Kraftsport fasziniert und erschreckt zugleich. Die Komposition überzeugt, doch gerade wir Deutschen spüren hier den Schatten der braunen Vergangenheit aufsteigen.
HNA 25. 7. 1987