Vor 15 Jahren reisten die Kritiker von der documenta 5 begeistert nach Hause und vermeldeten in ihren Berichten: Die Ausstellung lebt. In der Tat hatte sich etwas geändert. Zwischen Bildern und Objekten hatten Künstler Räume besetzt und zu Aktionsfeldern erweitert. Zu bestimmten Uhrzeiten traten sie auf und faszinierten das Publikum mit meist wortlosen Handlungen. Individuelle und politische Erfahrungen wurden da in ganz unmittelbare, manchmal schmerzhafte Körperaktionen umgesetzt. Vettor Pisani, Vito Acconci, James Lee Byars, Fritz Schwegler und Ben Vautier waren die Künstler, die das Kasseler Museum Fridericianum als Bühne nutzten, die Stimmungen, Gefühle, Einsichten und Angste in zwanghaftes Spiel einbrachten, die Bilder und Installationen zum Leben erweckten.
Die bildende Kunst war um eine neue Dimension erweitert worden. Zur Fläche und zum Raum war die Zeit als Ausdrucksmittel hinzugewonnen worden. Für Minuten oder Stunden erwachten so Räume zum Leben. Anfangs gab es Mißverständnisse, weil diese Aktionen mit Happenings, also mit ganz spontanen und provozierenden Herausforderungen, gleichgesetzt wurden. In Wahrheit handelte es sich um sorgfältig vorbereitete Inszenierungen, die nach klaren Drehbuchkonzepten abliefen.
Besucher allerdings, die später zur documenta anreisten, suchten oft vergebens diese Lebensspuren; manchmal fanden sie nur noch die spärlichen Requisiten als erstarrte Installationen vor.
Fünf Jahre später bildeten solche Aktionen eine offizielle Abteilung der documenta 6 – unter dem mittlerweile fest eingeführten Namen Performance. Jetzt wurde diese neue Kunstform endlich als eigenständige und weiterführende Kraft zur Kenntnis genommen. Dabei wurde aber auch schon die ungeheure Bandbreite dieser Aktionskunst deutlich – einmal konnte man sich in einem Raum mit einer genau abgezählten Besucherzahl wiederfinden, ein anderes Mal unterschied sich die Performance nur wenig vom Straßentheater, das die Passanten nur halb wahrnehmen.
Die Expansion der Kunst treibt diese documenta am weitesten voran. Die Performance ist in diesem Sommer zu einer eigenen Ausstellungs- und Ereignisebene geworden, wobei das umfangreiche documenta-Programm noch um Beiträge aus dem Theater, der Ausstellung Gruppenkunstwerke und von anderen Initiativgruppen ergänzt wird.
Allein bis zur documenta-Halbzeit sind bei den 112 Performance-Terminen der d 8 rund 14 000 Besucher gezählt worden. Hat die flüchtige Kunst also ihren Durchbruch geschafft? Die Zahlen verheißen zwar Gutes, doch sie verdecken die Probleme und schwierigen Erfahrungen. Wohl wurden für die Performance-Künstler mehrere attraktive Spielorte gefunden, doch sie liegen zum überwiegenden Teil außerhalb des Fridericianums, so daß die Aktionen leicht als Beiprogramm mißverstanden werden. Die Zurücksetzung der Performance-Künstier im Katalog verstärkt diesen Eindruck.
Andererseits lehrt diese documenta, daß die Performance ihrerseits alle Grenzen überschritten hat. Einige Aktionen erstrecken sich über Stunden und Tage, andere beziehen den gesamten Innenstadtbereich mit ein. Expanded Perfor mance (erweiterte bzw. ausgeweitete Performance) ist das Stichwort, unter dem Elisabeth Jappe das Gesamtangebot des von ihr zusammengestellten Performance-Programms sieht.
Es ist unmöglich, für alle der bisher gelaufenen 112 Aktionen einen gemeinsamen Nenner zu suchen. Doch es ist klar, daß viele documenta-Besucher in den Performances genau das finden, was sie in der starren Ausstellung selbst vergeblich suchen. Zwar setzen sich zahlreiche Bilder und Objekte mit dem Schrecken und der Angst-Vision auseinander, doch die wahren Tiefen menschlicher Not erfuhr man als Besucher erst in der Performance der erschreckenden Rituale, ausgeführt von der Societa Raffaello Sanzio. Andererseits konnten alle, die sich in das Camera-Obscura-Auto von Fritz Rahmann und Florian Kleinefenn setzten, eine neue Welterfahrung machen: In dem verdunkelten Auto bildete sich die Außenwelt fotografisch so gut ab, daß das Auto mit Hilfe dieser Abbildung gesteuert werden konnte und die Bilder zum Film wurden.
In der Kritik an dieser documenta sind schon zahllose Wünsche an die nächste formuliert werden. Hier nun soll einmal aus einer positiven Erfahrung eine Forderung vorgetragen werden: Die Performance, die sich bei dieser documenta als der aufregendste Teil vorstellt, müßte zum festen
Bestandteil der Kasseer documenta werden.
HNA 11. 8. 1987