Schild als Bild

In einer Ausstellung: Ein Besucher tritt vor ein Bild. Sein Blick wandert kurz über die Fläche, um gleich danach die Wand rundherum abzusuchen; endlich bleibt er an dem Schild neben dem Bild hängen. Der Besucher tritt näher, liest den Künstlernamen und den Bildtitel, nickt zustimmend oder schüttelt den Kopf. Was von dem Kunsterlebnis bleibt, ist die Erinnerung an ein Bild, die durch das Namens- und Titel-Schild gefiltert wird: Die als kleines Hilfsmittel gedachte Texttafel erschließt für viele das Werk. Das Schild wird zum eigentlichen Bild.

Hans Hollein (Jahrgang 1934), ein Architekt mit Sinn für die Inszenierungskunst, nutzte die Einladung zur documenta 8, um diese ganz alltägliche Form des Umgangs mit Kunst bewußt zu machen. Zusammen mit anderen Architekten war er aufgefordert, seine Vision von einem Idealmuseum in einer Koje anschaulich darzustellen. Hollein, der als Architekt des Museums Abteiberg in Mönchengladbach international Anerkennung fand, beschränkte seine Vision auf eine zeichnerische Studie. Seine Rauminszenierung aber widmete er der kritischen Aufarbeitung des normalen Umgangs mit Kunst: Er wandelte die erklärenden Schilder in die eigentlichen Bilder um, und ließ die Gemälde zu den begleitenden Hinweistafeln werden.

Dahinter steckt wirklich mehr als ein witziger Einfall, da wird ein Grundproblem der Kunst- Betrachtung und -Verarbeitung sichtbar gemacht. Der Maler greift zu Leinwand, Pinsel und Farbe, weil er glaubt, einen Eindruck, eine Stimmung, eine Erkenntnis oder eine Sichtweise nur malerisch formulieren zu können. Sollte er mehr der Sprache vertrauen, würde er vielleicht eher ein Gedicht oder einen Roman schreiben. Das bedeutet für den Betrachter, daß er das Gemälde (oder Objekt) mit den Augen erfahren soll, wenn er es richtig erfassen will. Nicht umsonst verzichten viele Künstler auf Titel für ihre Werke, weil sie verhindern wollen, daß mit Hilfe der sprachlichen Formulierung der Betrachter von der bildlichen Ebene weggelockt wird.

Die abstrakte Malerei beispielsweise leidet noch heute darunter, daß die Titel als Schlüssel zu den Bildern mißbraucht und nicht als bloße Kürzel oder Symbole verstanden werden. Bei dem Versuch, die im Titel genannten Begriffe im Bild wiederzufinden, verlieren die meisten das aus dem Blick, was eigentlich Thema ist – die Malerei. Andererseits entsteht schnell das Mißverständnis, in dem Moment, in dem man in einem klassischen Gemälde das im Titel umschriebene Thema erkannt habe, könne man das Bild abhaken. Dabei müßte eigentlich erst die Auseinandersetzung mit dem Werk einsetzen.

Natürlich stellen sich da Widersprüche ein, die nicht so schnell aufzulösen sind. Bei vielen Kunstwerken braucht man die hintergründige Erklärung, wenn man sie ganz erfassen will. Wer die Mythologie und die Bibel nicht kennt, dazu nichts über die Funktion der Kunst in früheren Jahrhunderten weiß, wird viele der klassischen Gemälde nicht verstehen können. Andererseits braucht man Hinweise über künstlerische Arbeitsweisen und Haltungen, um den Zugang zu bestimmten documenta-Werken zu gewinnen.

Und doch handelt es sich nicht um Werke der Konzept-Kunst, bei denen der Gedanke, der Plan und die Erklärung wichtiger sind als die Ausführung. Die meisten Arbeiten, auch in der documenta 8, sind bildliche und räumliche Formulierungen, die sich nicht an den Intellekt, sondern ans Auge wenden, die sinnlich erfahren werden wollen, auch wenn sie dabei nicht total erfaßt werden. Man muß dem eigenen Auge und den subjektiven Gedankenverbindungen mehr trauen. Hans Holleins Beitrag ermutigt dazu, über die Schilder hinwegzusehen.

HNA 21.7. 1987

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