Die Neue Galerie in Kassel hat die 114 Leihgaben der Sammlung Herbig verloren. Uber die Situation des Hauses sprach Dirk Schwarze mit Museumsleiterin Marianne Heinz.
Frau Dr. Heinz, Sie sind dabei, die Neue Galerie umzugestalten, nachdem die Sammlung Herbig abgezogen worden ist. Was bedeutet der Verlust der Sammlung für dieses Museum?
Heinz: Der Abzug bedeutet einen wesentlichen Einschnitt. Es ist ein Abschied, ein großer Verlust. Die Lücken, die dadurch entstanden, sind nicht mehr zu schließen, auch nicht durch Nachkäufe. Es geht nun darum, der zeitgenössischen Abteilung mit eigenen Beständen ein Gesicht zu geben, was uns auch gelingen wird.
Welche Künstler sind jetzt nicht mehr vertreten?
Heinz: Vor allem natürlich Baselitz und Penck. Was viele vermissen werden, ist das Bild Seestück von Gerhard Richter. Aber Richter ist durch das Bode-Porträt und die Erwerbung aus der documenta 7 immerhin weiter vertreten.
Nun führt der Abzug der Sammlung Herbig nicht nur zu einem Verlust an Namen und Werken, sondern bewirkt auch eine Richtungsänderung für die Präsentation.
Heinz: Auf jeden Fall. Was wegfällt, sind künstlerische Aufbrüche in den späten 60er Jahren (,der Ausstieg aus dem Bild), ist vor allem die Konzeptkunst – mit Richard Tuttle oder Palermo.
Die Neue Galerie hat keine Probleme, den entstandenen Freiraum neu zu füllen?
Heinz: Überhaupt keine. Sie werden keine leeren Räume entdecken. Ganz im Gegenteil:
Durch die Erwerbungstätigkeit seit den frühen 70er Jahren gelingt es, Schwerpunkte innerhalb des Hauses, zum Beispiel die Malerei der 50er Jahre, vorzuführen und die wesentliche Errungenschaft in der Kunst des 20. Jahrhunderts, die abstrakte Malerei, sehr gut zu zeigen.
Nimmt damit die Neue Galerie unter ihrer Leitung eine parteiliche Position in der Kunstdiskussion ein?
Heinz: Wenn Sie eine zeitgenössische Sammlung so verstehen, daß die neuesten Trends vertreten sein müssen, dann in der Tat wäre es eine verstärkte parteiliche Position. Ich arbeite aber vorwiegend mit dem, was im Hause vorhanden ist. Ich fange ja nicht wie zum Beispiel Herr Ammann im Frankfurter Museum für Moderne Kunst bei der Kunst von 1960 an. Hier ist eine bestimmte Tradition und Qualität zu berücksichtigen – und die führe ich fort, wobei ich die Video-Kunst und die Fotografie auslasse, die in anderen Museen viel besser gesammelt werden.
Nun gibt es aber auch Künst1er, die mit fotografischen Mitteln arbeiten, aber keine Fotografie machen. Das aus der documenta X an gekaufte Bild von Richard Hamilton ist ein Beispiel dafür.
Heinz: Das ist ein ganz interessantes Beispiel, zumal Hamilton in dieser Arbeit die Kunstgeschichte ganz stark reflektiert.
Was bedeutet die documenta für die Entwicklung der Sammlung?
Heinz: Die documenta wird immer ein Bezugspunkt sein, wobei ich ganz klar sage, daß mit Hilfe der documenta-Sondermittel die Sammlung zu erweitern ist, aber nicht zwingend aus der jeweiligen documenta angekauft werden muß. Entscheidend ist, daß die Aspekte der documenta in den Sammlungs-Zusammenhang passen müssen. Es kann nicht sein, daß Arbeiten angekauft werden, die in der Neuen Galerie einen Fremdkörper bilden.
Sie sehen es also nicht als Ihre Aufgabe an, die documenta-Entwicklung im Ausschnitt zu spiegeln?
Heinz: In einem kleinen Ausschnitt selbstverständlich. Das haben wir mit dem Hamilton-Ankauf gemacht und das planen wir auch noch mit Ulrike Grossarth. Wir haben auch bei der documenta 1992 sehr wohl auf neue Formen in der Malerei reagiert. 1987 hingegen haben wir uns auf die Modelle der documenta-Außenskulpturen und das Bode-Porträt von Richter beschränkt. Also es findet sich immer ein Teilaspekt wieder, wenn er die Sammlung in deren Schwerpunkten weiterbringt. Und es ist überhaupt keine Frage, daß die Neue Galerie ein Haus der Malerei ist. Außerdem haben wir durch den Raum von Beuys immer wieder die Diskussion über das Material und über gesellschaftspolitische Impulse.
Erfolgte die Auswahl in Absprache mit der documenta-Leitung?
Heinz: Dieses Mal nicht. Ich habe allerdings sehr früh einen Überblick über die Ausstellungsplanung gehabt. Nur: Bei der vorigen documenta gab es auch das Problem, daß viele Werke bereits in Museumsbesitz waren.
Die documenta-Ankäufe sind nur mit großer Mühe zustande gekommen. Welche Ankaufsmittel stehen denn zur Verfügung?
Heinz: In einem normalen Jahr haben wir 180 000 bis 190 000 Mark von der Stadt, die bestimmt sind zur Erweiterung der zeitgenössischen Sammlung. Im documenta-Jahr gibt es zusätzlich von Stadt und Land jeweils 200 000 Mark. Im Jahre 1992 hatten wir außerdem 200000 Mark von der Hessischen Kulturstiftung, die 1997 nicht mehr so frei zur Verfügung standen, weil die Stiftung auf Erwerbungen aus der documenta besteht. So wird die Stiftung – noch ist das nicht entschieden – hoffentlich die Installation der documenta X-Künstlerin Ulrike Grossarth finanzieren, die noch erstellt wird.
Das heißt, daß Sie von der Kulturstiftung mehr Geld bekommen hätten, wenn Sie anderes angekauft hätten?
Heinz: Ich hatte vor dem Hintergrund der 92er documenta ein Konzept entwickelt – für die Ankäufe der Stadt, des Landes und der Kulturstiftung. das die Kulturstiftung nicht akzeptiert hat, weil sie darauf besteht, nur Arbeiten aus der dx zu finanzieren. Damit habe ich nicht gerechnet, weil die Kulturstiftung 1992 so nicht argumentiert hat. Ich habe also auf die 200 000 Mark gesetzt.
Wenn Sie also an Stelle der Bilder von Pierre Soulages, Kurt Kocherscheidt und Jerry Zeniuk beispielsweise eine Arbeit von Jeff Wall vorgeschlagen hätten, dann hätten Sie ungeschmälert die Stiftungsmittel erhalten?
Heinz: Dann ja – wenn ich Jeff Wall vorgeschlagen hätte. Ich habe Jeff Wall zum einen nicht vorgeschlagen, weil die Arbeiten der dx bereits verkauft waren, bevor sie nach Kassel kamen. Außerdem ist Jeff Wall für die Sammlung der Neuen Galerie nicht so notwendig. Und sagen Sie mir, wo ich eine solche Arbeit integrieren soll – in den Schwerpunkten dieses Hauses? Jeff Wall kennen wir ja nun inzwischen landauf landab seit der documenta 1987.
Sie sprachen vorhin von der Logik der gewachsenen Sammlung seit dem 18. Jahrhundert. Also könnte man auch sagen, daß Landschaft, Stilleben und Porträt natürlich auch zu dieser Logik gehören und daß es die Frage ist, inwieweit sich solche Formen heute darstellen lassen.
Heinz: Das ist richtig. Ich könnte etwa ein Foto von Thomas Struth hinhängen, was überall hängt. Aber das bringt die Sammlung nicht weiter.
Anfangs zwei Leihgabenkomplexe
Die Neue Galerie in Kassel wurde 1976 in der wiederaufbauten alten Gemäldegalerie als ein Museum für die Kunst seit 1750 (Malerei und Skulptur) eröffnet. Sie gehört den Staatlichen Kunstsammlungen Kassel, vereinigt in sich aber die Kunstwerke aus städtischem und Landesbesitz. Die Kunsthistorikerin Marianne Heinz ist seit 1984 Leiterin der Neuen Galerie.
Als das Museum eröffnet wurde, fehlte insbesondere die aktuelle zeitgenössische Kunst, zumal man bis in die späten 70er Jahre versäumt hatte, Werke aus den documenten anzukaufen. So war Glücksfall, daß Prof. Erich Herzog 1976 für die Neue Galerie zwei ansehnliche Leihgabenkomplexe gewinnen konnte – die Sammlungen Krätz und Herbig. Sie brachten mit Werken von Carl Andre, Richard Tuttle, Sigmar Polke, Georg Baselitz, Gerhard Richter, Diter Rot, A. R. Penck und anderen die Kunst der 60er und 70er Jahre in die Neue Galerie.
Die Sammlung Krätz verließ 1991 Kassel und wurde in New York versteigert. Vorher waren aus ihr Arbeiten von Claes Oldenburg, K. H Hödicke und Polke für die Neue Galerie angekauft worden. Als 1992 auch der Abzug der Sammlung Herbig drohte, wurde ihr wichtigstes Element, der Beuys-Raum, herausgelöst und mit Sondermitteln in Höhe von 16 Millionen DM für das Museum erworben. Die Hoffnung, auf diese Weise wäre die Samrnlung auf Dauer in Kassel zu halten, erfüllte sich nicht. Jetzt werden im Februar die 43 Gemälde, 25 Objekte, 12 Skulpturen und 34 Grafiken bei Christies in New York zur Versteigerung ausgestellt. Einzig das Ensemble der Arbeiten von Marcel Broodthaers bleibt wenigstens die nächsten fünf Jahre in Kassel. Dort, wo bisher die Leihgaben zu sehen waren, werden nun Bilder und Skulpturen gezeigt, die die Neue Galerie seit den 80er Jahren, vornehmlich von documenta-Künstlern, erwerben konnte.
HNA 15. 1. 1998