Von Tischbein bis Beuys

In Vorbereitung auf die 1. Kasseler Museumsnacht am 11. September stellen wir die Ausstellungsorte vor. Heute werfen wir einen Blick in die Neue Galerie.

Es gibt nur wenige Museen, in denen so drastisch vorgeführt wird, welche gewaltigen Sprünge die Kunst im Laufe der letzten zweihundert Jahren gemacht hat, wie in der Neuen Galerie. Da kann man Spuren höfischer Malerei erahnen, kann sich von den Malern der Romantik und des Biedermeier verzaubern lassen, kann die Realisten und Impressionisten studieren und findet sich plötzlich zwischen ungegenständlicher Malerei und Installationen wieder, die Bildvorstellungen in den Raum übertragen.

Bis zum Frühjahr nächsten Jahres ist das Angebot noch komplexer: Weil die Gemäldegalerie in Schloß Wilhelmshöhe umgebaut wird, haben in drei Oberlichtsälen der Neuen Galerie die flämischen und niederländischen Meisterwerke von Rembrandt, Rubens, Hals, van Dyck, Jordaens und anderen ihren Platz gefunden. So birgt die Neue Galerie, die ihrem Konzept nach vom ausgehenden 18. Jahrhundert in die Moderne weist, vorübergehend in ihrem Inneren eine Schatztruhe mit vielen international geschätzten Hauptwerken des Kasseler Gemäldebestandes.

Als 1974 die Gemäldegalerie in Wilhelmshöhe und zwei Jahre später die Neue Galerie eröffnet wurden, mochte die Trennlinie, die den Schnitt zwischen beiden Sammlungen in der Zeit nach 1750 vollzog, willkürlich erscheinen. Dennoch geht das Konzept schlüssig auf, so daß der Hofmaler Johann Heinrich Tischbein und der Aktionskünstler Joseph Beuys schon gemeinsam in die Neue Galerie gehören.

Der Schlüssel dazu ist die Tatsache, daß Tischbein 1777 zum ersten Direktor der Kasseler Akademie bestellt wurde und die Bestände der Neuen Galerie zu einem wichtigen Teil die Werke der Künstler enthalten, die Absolventen oder Professoren der Akademie und späteren Kunsthochschule waren. Und da auch die documenta weitgehend das Geschöpf des Akademie-Professors Arnold Bode ist, liegt es im Sinne der Tradition, daß die Neue Galerie seit 1982 systematisch Werke von documenta-Künstlern ankauft. Ein schöner Nebeneffekt dieser Sammlungspolitik ist, daß durch den documenta-Bezug die Internationalität der Bestände gesichert wird.

Die Neue Galerie gehört zu den Staatlichen Museen Kassel. Innerhalb dieses großen Komplexes nimmt sie eine Sonderstellung ein, weil in ihrer Sammlung die Kunstbestände der Stadt und des Landes vereinigt sind. Die Tatsache, daß sich die Stadt um die Pflege ihres Kunstbesitzes nicht zu kümmern braucht, hat zu der vertraglichen Vereinbarung geführt, daß sie jährlich den entscheidenden Teil der Ankaufsmittel bereitstellt.

Den ersten Schwerpunkt bilden in der Neuen Galerie die Gemälde der Tischbein-Malerfamilie und aus deren Umfeld. Daneben sind die Malerschulen München, Düsseldorf und Kassel gut vertreten – sowie Einzelpersönlichkeiten des frühen 19. Jahrhunderts. Bedeutsam werden die Bestände, wenn es um die Spiegelung des deutschen (Neo-)Impressionismus und Expressionismus und der Willingshäuser Malerkolonie geht. Und internationale Beachtung verdient die Sammlung mit der Kunst seit 1960. Ankäufe aus abgewanderten Leihgabenkomplexen (allen voran der Beuys- Raum) und documenta-Erwerbungen konnten zur Profilierung verhelfen. Dr. Marianne Heinz, die Leiterin der Neuen Galerie, legt den besonderen Akzent auf die ungegenständliche (konkrete) Malerei. Nicht vergessen wird aber auch die Dokumentation der regionalen Szene.

HNA 31. 7. 1999

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