Die meisten Kunst-Touristen, die Kassel nur zur documenta-Zeit kennen, wissen gar nicht, daß die in der Neuen Galerie vereinigten Städtischen und Staatlichen Kunstsammlungen auch eine gewichtige Abteilung zeitgenössischer Kunst vorweisen können. 1972 (zur documenta 5) gab es die Neue Galerie noch gar nicht, und vor zehn bzw. fünf Jahren wurde ausgerechnet der Teil der Sammlung, der in die Gegenwart führt, zugunsten von documenta-Abteilungen ausgeräumt.
Insofern feiert die Neue Galerie diesen Sommer Premiere – sie kann sich mit ihren Beständen an Kunst des 20. Jahrhunderts einbringen. Drei Komponenten sind hier bemerkenswert: Das Informel (abstrakt-gestische Malerei der Nachkriegszeit), zwei gewichtige Leihgabenkomplexe mit Hauptwerken von Beuys, Richter, Baselitz, Penck, Tuttle und Oldenburg sowie die Ankäufe aus der documenta 7.
Die Neue Galerie beschränkt sich aber nicht darauf. Deren Leiterin Marianne Heinz hat der Sammlung eine kleine, aber sehr präzise Ausstellung vorangestellt, die nicht nur auf Grund ihres Titels Gegenstand: Malerei programmatisch zu verstehen ist. Es geht um die Malerei an sich – abseits von erzählerischen oder perspektivischen Inhalten – es geht um die Fragen, die die alltäglichen Museumsbesucher an die zeitgenössische ungegenständliche Kunst haben.
Marianne Heinz wertete ihre Erfahrungen während der Führungen aus: Lovis Corinths Walchensee – Landschaft mit Kuh (1921), eines der Hauptwerke der Neuen Galerie, stößt gemeinhin auf Bewunderung. Doch wird diese Malerei auch richtig verstanden, lenkt das wiedererkennbare Motiv nicht von dem eigentlichen Thema des Malers ab? In dem grafisch beispielhaften Katalog zur Ausstellung lenkt die Museumsleiterin mit Hilfe einer Ausschnittvergrößerung den Blick der Museumsbesucher vom Motiv weg auf die Malerei. Auf einmal wird klar, wie frei sich Corinth beim Gestalten der Landschaft bewegt hat, mit wieviel Klarheit er die breite Pinselführung und die Farbmischung stehen läßt: Die scheinbare Kulisse aus See und Bergen birgt ein malerisches Abenteuer, bei dem der Anlaß fast in Vergessenheit gerät.
Wer sich darauf einläßt, kann sich der weiteren Argumentation nicht entziehen. Das schöne an der Ausstellung ist, daß sie den gedanklichen Ansatz auf einen knappen Katalogtext reduziert, die Argumentation aber den Bildern überläßt: Von Corinth, dessen Bild am Kopf der Eingangshalle hängt, wird man zu Fautrier und Poliakoff geführt und dann weiter zu den Zeitgenossen Girke, Graubner, Hoehme, Kaminsky und Zeniuk. Hier kann man sich einsehen in die Malerei, in die satten Kompositionen (Poliakoff, Graubner, Zeniuk) und zarten Gespinste (Fautrier, Girke, Hoehme).
Natürlich steht Corinth nicht am Anfang der Ahnenreihe abstrakter Malerei, Mit seinem
Werk liefert er aber eine künstlerische Basis. Und ebenso natürlich ist, daß diese Auswahl nur knapp und beispielhaft angelegt ist; anderes wäre weder räumlich noch finanziell möglich gewesen. Überzeugend an dem Unternehmen ist, daß die Schau auch das Fachpublikum anspricht, indem sie an frühere documenta-Beiträge zur Malerei erinnert und indem sie zu der Sammlung der Neuen Galerie hinführt. Insofern ist die Ausstellung auch Visitenkarte und Programm: Museumsleiterin Marianne Heinz dokumentiert auf diesem Weg, daß sie die Sammlung ungegenständlicher Malerei weiter ausbauen will. Auch ein Kommentar zu der nun beginnenden documenta 8.
HNA 10. 6. 1987