Kasseler Kunst aus 50 Jahren

In der Neuen Galerie sind – nach längerer Unterbrechung – wieder Kasseler Künstler der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit präsent. In vier Räumen des Tiefgeschosses, zu erreichen über das hintere Treppenhaus, werden vornehmlich Maler mit Werken aus den letzten 50 Jahren vorgestellt. Ein sicherlich notwendiger Tribut an die lokale Szene.

Der Überblick setzt mit der Zeit um 1930 relativ breit an, wird aber, was die Nachkriegszeit angeht, punktuell und am Ende zufällig. Der Auftakt mit den Bildern, die vor rund 50 Jahren entstanden, ist vor allem dadurch beeindruckend, weil man hier sechs Malern in ihren Selbstbildnissen begegnet. Diese Porträts spiegeln aber nicht nur Künstlerpersönlichkeiten aus dem jeweils eigenen Blickwinkel, sondern fächern auch die Möglichkeiten realistischer Malerei zwischen Expressionismus, neuer Sachlichkeit und Naturalismus auf.

Eindeutiger Mittelpunkt ist das bekannte dreifache Selbstbildnis von Karl Leyhausen (1930), in dem sich der Künstler selbstironisch als Snob, Maler und Bürger vorstellt. Nicht weniger liebenswürdig Leyhausens witzig-verschmitztes Selbstporträt von 1937 (mit Melone). Walter Nikusch hingegen sah sich 1932 als nachdenklich-ernsten Mann, wobei der Realismus der Darstellung noch expressionistische Züge trug. Ganz aus intensiven expressionistischen Farben geschöpft ist Karl Döbels 1924 entstandenes Selbstbildnis. Wohingegen Christian Beyers Selbstporträt von 1930 in seiner kritischen Selbstbefragung auch malerisch zweifelnd wirkt.

Karl Buchart schließlich stellte sich 1931 als selbstbewußten, am Betrachter vorbeischauenden Künstler dar; seine realistisch-idealisierende Weltschau gewinnt in der weiten Landschaft allerdings stark naiven Charakter. Letztes Werk in dieser Reihe ist Hugo Rohleders Selbstbildnis von 1939.

Die Malerei der 50er und 60er Jahre wird insbesondere durch die Bilder von George Stahl, Bernhard Delsing und Felix Kol1er repräsentiert. Kollers hier (unter anderen Beispielen) gezeigte Komposition „Kaunispää (Lappland, 1963) wirkt furios: Die ausgedehnte dunkle Landschaft unter einem hohen, lichten und zugleich stürmisch bewegten Himmel ist kraftvoll, souverän und doch ganz unbeschwert gemalt.

Die Nachbarschaft mit Delsings Gemälde „…ist ein luftiges Gebilde“ bekommt gut: Bei Delsing mischen sich die weißen, blauen, grünen und roten Töne auf eine beschwingte, heitere
Weise; die Farbe blüht in freien Formen auf und läßt trotzdem gelegentlich Vogelköpfe und -gefieder erkennen.

Im vierten und letzten Raum schließlich wird der Anschluß zur Gegenwart hergestellt. Von Werner Kausch sieht man massig wirkende Industriebilder und seine dagegen leicht und transparent erscheinenden Landschaftsanalysen. Von Maarten Thiel wird u. a. ein sehr dichtes, aber im Sinne Klees spielerisches Kleinformat (,‚Unkraut“) gezeigt.

Dieter Rudolphs malerische Entwicklung von surreal-abstrakten Kompositionen zu einer versteinerten Landschaft ist zu verfolgen. Und schließlich sieht man drei originelle Beispiele der neuen Kasseler Realisten-Schule – von Erik Hoffmann, Elisabeth Engelbrecht und Andreas Schulze (heute einer der ‚neuen Wilden“).

Aufgestellt ist hier auch Siegfried Gerstgrasser Objekt „Lebenszeichen‘ – ein sterbender Baum auf einer weißen Bahre. Doch diese Arbeit, die bei der Jahresschau im Kunstverein so faszinierte, kann sich hier nicht entfalten: Das Kabinett ist viel zu klein für dieses Objekt; vor allem fehlt auch ein zentraler Teil des Beitrages – die von der Decke hängenden Stoffahnen, die mit den Lebensspuren des Baumes bedruckt sind. –

HNA 15. 3. 1984

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