Aufbruchstimmung entstanden

Zäh und quälend war das Findungsverfahren vor der vorigen documenta. Erst gab es eine Unmenge von Kandidaten, dann nur noch einen, der sich zierte, aber doch wollte, schließlich ruhte die ganze Hoffnung auf einem Gespann, bis dieses aufgab. Zuletzt wurde zum zweiten Mal Manfred Schneckenburger als künstlerischer Leiter aus dem Hut gezaubert.

Obwohl er innerhalb relativ kurzer Zeit eine am Ende nicht nur publikumswirksame, sondern in Teilen auch beachtliche documenta 8 zusammenbrachte, wurde er den Ruf, nur eine Notlösung gewesen zu sein, nie los. Und als mit dem Ausstellungsabbau eine nochmals quälende Diskussion um das trotz des Besucherrekords entstandenen Defizits zu führen war, und als noch im vorigen Jahr die endgültige Entscheidung fiel, die Kasseler Orangerie unumstößlich zum Museum auszubauen, da schien für viele die Zukunft der documenta verloren. Eigentlich, so war zu hören, sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Scheinexistenz als solche entlarvt werde.

Verstärkt wurde diese Untergangsstimmung bei vielen documenta-Freunden noch dadurch, daß überall in den Metropolen massiv auf die große internationale Kunstschau gesetzt wurde: Erst Köln, dann Düsseldorf, danach Berlin und Frankfurt und wiederum Köln aktivierten Messehallen und Bahnhöfe sowie einige Millionen, um ihre kulturelle Dynamik unter Beweis zu stellen. Die documenta in Kassel ist längst nicht mehr das Ausnahmeereignis. Sie füllt nicht mehr, wie in der Pionierzeit, eine Lücke, sondern muß sich ihre Führungsrolle jedes mal neu erkämpfen.

Die Chancen, dies zu leisten – und zu erreichen, stehen seit Samstag nicht mehr
schlecht. Auf einmal entsteht wieder so etwas wie Aufbruchstimmung. Die Entschiedenheit, die Energie, der Witz und die Lust an der Kunst, die der 52jährige Belgier Jan Hoet (Foto) ausstrahlt, stecken an. Schon von daher ist der Direktor des Genter Museums für Gegenwartskunst eine gute Wahl für die künstlerische Leitung der d 9 (1992).

Ein Neuanfang scheint möglich. Hoet hält sich nicht mit dem Lamentieren über verlorene Schlachten (um die Orangerie) auf. Er stellt Forderungen. Und da der documenta-Aufsichtsrat in Kenntnis dieser
Forderungen Hoet einstimmig berief, müßten sie auch erfüllt werden: Neben der versprochenen hohen Halle verlangt Hoet für die documenta die ganze Neue Galerie. Gerade weil er vor drei Jahren mit seiner Ausstellung „Chambres d‘amis“ in Gent bewies, daß er fernab der Institutionen und großen Häuser Kunstvisionen zu verwirklichen vermag, gewinnt sein Verlangen Gewicht.

Für die Neue Galerie selbst, die sich als ein Haus für die Kunst der Gegenwart profiliert, bedeutet es natürlich ein Handikap, ausgerechnet in der Zeit der documenta nicht präsent zu sein. Doch kann auch auf dem Weg über die documenta-Zwischennutzung die Reinigung der Neuen Galerie von den störenden Einbauten und die Neuordnung der Sammlung vorangetrieben werden.

Die documenta braucht, will sie ein Brennspiegel für die internationale Kunst der Gegenwart sein, eine großzügige Dimension. Jan Hoet hat dies erkannt, und er hat damit zugleich bewiesen, daß sich seine visionäre Kraft durchaus mit der eines Arnold Bode oder eines Harald Szeemann vergleichen lassen kann.

Hoets Stärke liegt darin, daß er sehr präzise Vorstellungen von der Kunst hat, daß er aber nicht auf begrenzte Vorstellungen festgelegt ist. In der Biennale
des Vorjahres (in Venedig) hatte Hoet die Auswahl für den belgischen Pavillon zu verantworten: Im Zentrum sah man ein Haus im Haus – eine real gebaute und bis in alle Einzelheiten konsequent gestaltete Vorstadtidylle, die Guillaume Bijl inszeniert hatte; Bijl zeichnet sich dadurch aus, daß er immer wieder Ausschnitte der Realität mit allen ihren winzigen Bestandteilen in den Kunstbereich transponiert und somit verblüfft und zur Diskussion stellt. Dieses brave Einfamilienhaus mit Vorgarten war in dem belgischen Pavillon umgeben von Räumen, in denen Narcisse Tordoir anhand von Tafeln und Schriftwänden konzeptuell zur Reflexion über Kunst anregte. Aus den Umräumen definierte sich Bijls Beitrag ganz neu. Es war in Venedig 1988 eine der gelungensten nationalen Inszenierungen.

Diese Verbindung von sinnlichem Vergnügen und ernster Reflexion, von freiem Spiel und Antwort auf die gesellschaftliche Situation könnte zu einer vielversprechenden Basis für die nächste documenta werden. Und es wäre deren große Chance, wenn sie dabei zielsicher über Westeuropa und Nordamerika hinausblicken würde. Der documenta ist zu wünschen, daß der neu entzündete

Funke überspringt. HNA 23. 1. 1989

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