Gegen einen neuen Verdrängungsprozeß

Entschieden haben sich die Staatlichen Kunstsammlungen gegen die Forderung des neuberufenen documenta-Leiters Jan Hoet gewandt, die gesamte Neue Galerie für die documenta 9 auszuräumen. Mit diesem Ansinnen, so die Leiterin der Neuen Galerie, Dr. Marianne Heinz, gehe die documenta „wie eine Dampfwalze über ein Museum hinweg, dessen Sammlung ganz eng mit der documenta verknüpft sei. Offensichtlich hätten die Museen in Kassel keine Lobby. Die Arbeit ihres Hauses werde total mißachtet.

In einem Gespräch mit unserer Redaktion forderte die Leiterin der Neuen Galerie nachdrücklich, den Dauerkonflikt zwischen den Museen und der documenta in Raumfragen zu beenden. Sie sei sehr wohl zur Kooperation mit dem documenta-Leiter bereit, sie werde auch gern mit Jan Hoet sprechen, doch verwahre sie sich dagegen, daß über ihren Kopf hinweg bestimmt werde, was mit der Neuen Galerie passieren solle. Sie erwarte vielmehr eine kollegiale Regelung.

Die Neue Galerie sei essentiell an der documenta interessiert. Doch die Besucher würden für dumm verkauft, wenn gerade auch die aktuelle Sammlung mit Werken aus den vorigen documenten weggeräumt würde. Sie zweifle, so Marianne Heinz, ob Jan Hoet die Neue Galerie und deren Sammlung kannte, als er die Forderung nach dem Ausräumen stellte.

Der Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen, Dr. Ulrich Schmidt, unterstrich gegenüber unserer Redaktion, daß das Ziel der großangelegten Museumsdiskussion in Kassel gewesen sei, die Konkurrenz um Räume zwischen documenta und Museen auf Dauer zu beenden. Wenn nun die „unselige Diskusson“ aufs Neue begänne, würden die Beteiligten auf den Stand vor Verkündigung des neuen Museumskonzeptes zurückgeworfen. Der Verdrängungsprozeß müsse beendet werden. Schmidt wörtlich zu der Forderung von Hoet:,, Ich lehne das prinzipiell ab. Er werde sobald wie möglich deshalb Gespräche mit dem zuständigen Ministerium, Oberbürgermeister Hans Eichel und Jan Hoet führen.

Verständlicher Protest

Es wäre verwunderlich, wenn sich die Leiterin der Neuen Galerie nicht gegen das Verlangen wenden würde, ihre Sammlung zugunsten der nächsten documenta auszuräumen. Hat nicht gerade in den letzten Jahren die Kunst der Gegenwart in diesem Museum deutlich an Gewicht gewonnen?

Völlig richtig. Es stimmt auch, daß an dieser Stelle die Meinung vertreten wurde, daß die Neue Galerie einen Anspruch darauf habe, mit ihrer Sammlung während der documenta präsent zu sein. Doch mit dem vorigen Samstag ist eine neue Situation entstanden: Es waren nicht nur die Dynamik, die visionäre Kraft und der Charme des neuen documenta-Leiters, die alle Vorsätze vergessen ließen. Als Jan Hoet der Presse die Umrisse seines Konzeptes vorstellte und die Neue Galerie für die documenta forderte, konnte und mußte man davon ausgehen, daß er dies nicht nur mit Wissen, sondern auch mit Duldung oder Zustimmung des documenta-Aufsichtsrates tat.
Jedenfalls widersprach niemand, als entsprechend nachgefragt wurde. Da in dem Aufsichtsrat die Parteien der Stadt, die Kunstsammlungen und das zuständige Ministerium vertreten sind und Hoet einstimmig berufen wurde, wäre es fahrlässig gewesen, die Verantwortlichen hätten ihn gewählt, ohne seiner Forderung zuzustimmen. Immerhin hat Marianne Heinz trotz des Überfalls Kooperationsbereitschaft signalisiert. Also müssen ganz rasch die Beteiligten an einen Tisch gebracht werden, um aus dieser Raumfrage keinen neuen Dauerkonflikt werden zu lassen. Vielleicht ist ja die zeitgenössische Sammlung der Neuen Galerie als historisches Vorwort zur documenta denkbar, vielleicht bieten sich auch Räume an anderen Plätzen. Allerdings ist Hoets Ansinnen auch kein unkollegialer Akt: In seinem Genter Museum räumt er häufiger für Wechselausstellungen die Sammlung aus.

HNA 28. 1. 1989

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