Die Generationen konfrontieren

Die documenta 9 wird in zwei Jahren, vom 13. Juni bis 20. September 1992, in Kassel stattfinden. Da möglichst viele Kunstwerke an Ort und Stelle entstehen sollen, will die documenta-Gesellschaft erstmals mit Hilfe einer Frankfurter Agentur Sponsoren-Mittel der Wirtschaft einwerben, um über den geplanten 10-Millionen-DM-Etat hinaus Künstlerreisen und -aufenthalte in Kassel finanzieren zu können. Welche Künstler definitiv eingeladen werden, will der künstlerische Leiter, der Belgier Jan Hoet, exakt neun Monate vor dem Start, am 13. September 1991, auf einer Pressekonferenz in Kassel verkünden. Über den derzeitigen Stand der documenta-Vorbereitungen sprach jetzt mit Jan Hoet unser Redaktionsmitglied Dirk Schwarze.

Frage: Herr Hoet, Sie sind in den vergangenen Monaten viel herumgefahren und haben Künstler in ihren Ateliers besucht. Sie waren in Afrika, Australien, Lateinamerika…

Hoet: … in Kuba, Kanada, Washington, Chicago, Skandinavien; außerdem in Italien, in Süddeutschland und auch in Frankfurt und Stuttgart.

Frage: Hat sich das Bild, das Sie von der aktuellen Kunst in der Welt hatten, durch diese Reisen verändert?

Hoet: Ich muß sagen: ja. Ich habe festgestellt, daß sich die jüngere Generation gegenüber der älteren wirklich profiliert. Viele Künstler der älteren Generation haben gedacht, die Welt zu verändern, wie beispielsweise Joseph Beuys. Wir haben daran geglaubt. Dagegen steht die jüngere Generation, die sich mehr ausdrückt im Widerspruch der Gefühle. Dreißig Jahre früher konnte man sagen: ich hasse oder ich liebe. Jetzt aber bewegt sich die Kunst zwischen Haß und Liebe, zwischen Glauben und Pessimismus, zwischen Darstellung nach außen und Rückzug nach innen. Reinhard Mucha zum Beispiel – er gehört zur jüngeren Generation, hat aber noch einen Fuß in der Welt der vorherigen – zieht sich zurück in seine eigene Welt. Sein Haus, sein Kind, sein Leben, seine Erinnerungen sind für ihn wichtiger als die Veränderung der Welt.

Frage: Hat das für die documenta-Vorbereitung andere Arbeitsweisen zur Folge?

Hoet: Ja. Ich hatte gedacht, man muß alles offen machen, Dynamik ermöglichen. Das geht nicht. Man muß das Publikum konfrontieren mit diesen zwei Bewegungen – mit dem „Undoppeldeutigen“ und mit der ganzen Widersprüchlichkeit.

Frage: In der Biennale in Venedig hat Australien die Kunst der Aborigines (Ureinwohner) vorgestellt. Wie wichtig ist diese Kunst für das, was Sie in Australien gesehen haben?

Hoet: Für mich ist das Kultur und Ethnologie, aber keine Kunst. Wirkliche Kunst schließt immer die Möglichkeit ein, kritisiert zu werden. Aber diese Kunst kann man akzeptieren, nicht kritisieren.

Frage: Werden Sie auch in die osteuropäischen Länder reisen?

Hoet: In der zweiten Juliwoche fahre ich nach Ostdeutschland, Dresden, Leipzig und Ost-Berlin, und Ende Juli in die Sowjetunion.

Frage: Haben Sie schon Arbeiten von osteuropäischen Künstlern gesehen, in denen Sie einen eigenen Weg entdeckt haben?

Hoet: Nein. Ich habe den Eindruck, daß vor allem die russischen Künstler erst zurück zur Revolution müssen.
Frage: Sie hatten, als Sie die documenta-Leitung übernahmen, den Gedanken geäußert, von Bruce Nauman ausgehend die Ausstellungsstruktur zu entwickeln. Müssen Sie nun einen anderen Ausgangspunkt wählen?

Hoet: Ja. Bruce Nauman war ein Start für mich, weil er ein Beispiel für die Komplexität war. Als Figur bleibt er natürlich wichtig, aber nicht zentral.

Frage: Wäre eine Konfrontation der älteren und jüngeren Positionen denkbar?

Hoet: Ja – genau wie Fuchs das (zur documenta 7) gemacht hat. Ich werde es in dieser Richtung weiterführen. Aber nicht jeweils in einem Raum, sondern so, daß man von einem Raum in den anderen permanent in ein anderes Klima kommt. Doch den Künstlern soll die Offenheit bleiben, nach eigenen Vorstellungen auch Gruppen zu bilden.

Frage: Gibt es für Sie und Ihr Team schon eine Handvoll Künst1er, die unbedingt bei der documenta dabei sein werden?

Hoet: Wir haben schon eine Liste von 40 Künstlern. Die 40 sind definitiv. Von den 40 waren nur 14 schon einmal in einer documenta – also 26 neue Namen bisher. Die nächste Auswahl folgt in einem Monat. Dann geht es um die junge Generation und auch Außenseiter. Was meine ich mit Außenseitern? Es gibt Bewegungen, die nicht mehr im Mittelpunkt stehen – die Neuen Wilden etwa. Diese Bewegungen maß man nun zurückverfolgen und einen neuen Schlüssel finden. Man muß jetzt die individuelle Entwicklung sehen und nicht mehr die Gruppe.

Frage: Haben Sie sich eine Obergrenze für die Zahl der auszuwählenden Künstler gesetzt?

Hoet: 125. Es sieht so aus, als ob wir das einhalten können. Wenn es auch 140 werden, dann sind das noch wenig. Aber wenn es sehr viel mehr werden, kann man alles nehmen, dann muß man ein Archiv machen und 1000 Künstler ausstellen.

Frage: Sie hatten frühzeitig ausgeschlossen, daß zur documenta außerhalb der Gebäude etwas passiert. Sie wollten die Ausstellung auf die Räume konzentrieren.

Hoet: Ich habe noch immer diesen Plan, obwohl ein Künstler auch die Möglichkeit haben muß, seine Arbeit draußen zu realisieren, wenn er das unbedingt will. Es gibt in der Kunst zuviel, das nach außen gerichtet ist. Wenn man mit Leuten spricht, sagen die: Mein Gott, es muß schwierig sein, eine documenta zu machen, denn niemand weiß noch, was Kunst ist. Aber darauf eine Antwort zu geben, das wäre das Schönste, was man machen kann.

Frage: Aber Sie wissen, was Kunst ist?

Hoet: Ich glaube, ja. Ich bin überzeugt. Was die Zweifel nicht ausschließt – aber Zweifel als ein aktives Instrument.

Frage: Gehen Sie in ihrem Team dabei von einem einheitlichen Ansatz aus?

Hoet: Mehr und mehr. Ich möchte auch gerne demokratisch vorgehen, damit die Ausstellung möglichst intersubjektiv wird. Aber daraus darf keine Mayonnaise werden.

Frage: Sind Sie sicher, daß die documenta-Halle rechtzeitig fertig wird?

Hoet Ja.

Frage: Einige Irritationen hat ihre Idee verursacht, die Kirkebv-Skulptur von der documenta 7 zu rekonstruieren. Wie konkret ist der Plan?

Hoet: Es ist sicher, dass wird das machen. Aber wir wissen noch nicht, an welchem Ort. Die Backstein-Skulptur könnte auch Teil der Architektur an der documenta-Halle werden. Ich finde, daß jede documenta die Chance haben muß, Korrekturen anzubringen – Skulpturen wegzunehmen und zurückzubringen. Das sind starke, symbolhalte Entscheidungen.

Frage: Was wollen Sie wegnehmen?

Hoet: Den Rahmenbau von Haus-Rucker. Der identifiziert sich zu sehr mit der früheren documenta.

Frage: Aber ist der Rahmenbau nicht schon zu einem Stadtzeichen geworden, losgelöst von der documenta?

Hoet: Das ist natürlich auch richtig. Aber der Rahmenbau kann nach der documenta an seinen Platz zurückkommen. Es gibt Künstler, die wollen gar nicht, daß ihre Arbeiten dauernd gezeigt werden. Ich bin auch dieser Meinung. Kunst braucht auch das Mysteriöse. Es wäre vielleicht nicht schlecht, van Gogh für zwei Jahre in den Keller zu bringen.

Frage: Dann kamen nachher noch mehr Menschen.

Hoet: Das ist das Paradoxe. Andererseits muß man van Gogh immer zeigen.

Frage: Aber Sie zeigen ihn nicht in der documenta…

Hoet: Nein.

Frage: Sie hatten Anfang 1989 gesagt, daß Sie sich ausschließlich auf lebende Künstler konzentrieren wollen. Bleiben Sie dabei?

Hoet: Ja, ganz sicher. Aber ich werde drei kunsthistorische Arbeiten auswählen und sie in einer Glasarchitektur zeigen. So daß man nicht hineinkommen kann und man sieht: Das ist vergangen, aber nicht vergessen – ein kunsthistorischer Reflex. Es handelt sich um drei Arbeiten, die nicht durch Kunsthistoriker als die wichtigsten Bilder eingestuft worden sind – und zwar Werke von David, Gauguin und Barnett Newman. Sie stehen für drei Revolutionen: David – die französische Revolution; Gauguin – die Revolution des Individuums, Barnett Newman – die Revolution gegenüber der Geschichte. Das ist eine Trilogie. Und dann will ich eine zweite Trilogie einbauen. Die betrifft das Leben: Jazz, Baseball und Boxen. Alle drei haben stark mit dem Individuellen zu tun.

Frage: Haben Sie schon Vorstellungen, wie Sie das in der documenta Gezeigte den Besuchern vermitteln?

Hoet: Diese Trilogien – der kunsthistorische Reflex und der Lebens-Reflex – sind für mich die didaktischen Instrumente. Und ich suche noch eine dritte Trilogie. Die dritte Trilogie hat
mit dem Zwischenbereich zu tun – zwischen Lebensausdruck und Kunst. Es wird Führungen geben, aber keine Texttafeln. Die Kunst muß sich selbst darstellen.

HNA 23. 6. 1990

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