Vor knapp zwei Wochen wurde der 52jährige Belgier Jan Hoet zum künstlerischen Leiter der documenta 9 (1992)berufen. Bereits Mitte April will sich Hoet als Direktor des Museums für Gegenwartskunst in Gent beurlauben lassen, um von Kassel aus die documenta vorbereiten zu können. Mit Hoet sprach in Gent unser Redaktionsmitglied Dirk Schwarze.
Frage: Von welchem Ansatz gehen Sie bei der Vorbereitung der documenta 9 aus? Ist die Basis die vorige documenta, ist es die Idee der Kunst oder ist es die Situation des Jahres 1992?
Hoet: Es gibt viele Faktoren. Ich habe nie gedacht, die nächste documenta als eine Antwort auf die letzte zu machen. Die letzte documenta hatte für mich zuviel mit gesellschaftlichen Spuren zu tun: Wenn ich in die documenta hineinging, konnte ich nicht spüren, daß ich von außen nach innen kam. Ich sah innen dasselbe, was ich draußen sah. Es hatte alles mit Symbolen zu tun, man konnte alles den Leuten ganz einfach erklären. Darin liegt nicht meine Herausforderung.
Im Gegenteil: Ich möchte nur Kunst zeigen – und dies gerade 1992. Denn 1992 bedeutet für mich nichts anderes als die Einheit Europas. Aber diese Einheit ist in Wahrheit nur der Zusammenschluß der wirtschaftlichen Kräfte. Die Kunst muß dagegen antreten. Darum sage ich: In diese documenta kommt kein Jeff Koons, weil seine Arbeiten für mich ein Symbol der wirtschaftlichen Kräfte sind. Also muß ich etwas machen, was nichts mit Kommerz zu tun hat.
Frage: Denken Sie, daß Sie frei genug sind..
Hoet: Das ist natürlich das Problem
Frage: … von den Kräften des Marktes und der Galerien, um dies durchzusetzen?
Hoet: Ich hoffe – auf jeden Fall. Und warum darf ich hoffen? Aufgrund meiner Erfahrung mit Künstlern. Es gibt noch viele Künstler, die das alles spüren. Und erstmals sieht man Künstler, die sich der kommerziellen Situation entziehen. Einige haben sich sogar entschieden, drei Jahre keine Ausstellung mehr zu machen, obwohl sie Erfolg haben. Durch sie wird das Ziel für mich erreichbar.
Frage: Sie haben jetzt gesagt, wer nicht in die documenta kommt. Gibt es denn einen Künstler, der auf jeden Fall hineinkommt?
Hoet: Es gibt verschiedene Künstler, Künstler, die Arbeiten gemacht haben, die eine derart große Komplexität darstellen, die wir jetzt genau brauchen. In Deutschland ist da zum Beispiel Reinhard Mucha für mich ein ganz großer Künstler. Und der entzieht sich dem Markt.
Oder da ist Dan Graham – mit einer ganz sensiblen Komplexität in seinen Arbeiten. Oder Mario Merz, der auch immer eine große Komplexität gesucht hat. Seine Werke haben mit ihm, mit der Welt zu tun und mit dem Problem, ein Tisch muß eine Skulptur werden, und die Skulptur muß ein Tisch sein. Eine Doppeldeutigkeit, die ganz klar ist. Oder da ist ein Künstler wie Bruce Nauman.
In Belgien zum Beispiel ist Jan Fabre ein junger Künstler, der ein Gefühl dafür hat, verschiedene Aspekte von Kunst und Leben zusammen zu bringen. Marcel Broodthaers hatte das auch. Doch in der nächsten documenta werden keine Werke toter Künstler ausgestellt.
Frage: Also kein Beuys…
Hoet: Kein Beuys, kein Broodthaers. Ich möchte mich wirklich so weit wie möglich auf den Aktualitätswert konzentrieren. Aber Aktualitätswert nicht im Sinne von Zeitgeist; gemeint ist vielmehr die Kunst, die stimulierend für die Zukunft ist, die das Unbekannte sucht, die das Globale, das Totale enthält. Für mich sind zum Beispiel die letzten Arbeiten von Frank Stella reiner Glamour. Die Bilder von Ellsworth Kelly sind das nicht. Sie stehen noch immer für das Totale. Dasselbe gilt für die Arbeiten von Robert Ryman.
Frage: Sie haben gesagt, die vorige documenta zeigte drinnen, was draußen war. Sie deuteten nun selbst einen sehr starken Bezug zur Gesellschaft an. Andererseits stehen Namen wie Kelly oder Ryman für solche Künstler, die nur Antworten auf die Kunst geben. Wo ist da die Brücke?
Hoet: Es kommt darauf an, ob das Publikum die Offenheit hat, ein Werk von Ryman nicht bloß als Kunst anzusehen, sondern das Bild anzugucken und dann mit dem Unbekannten in sich selber konfrontiert zu sein. Der gesellschaftliche Bezug, den ich sehe, ist der: Kunst ist vielleicht das einzige Instrument, das so stark das Unbekannte im Menschen darstellt. Die Wissenschaft kann das weniger. Aber Kunst, obwohl sie abstrakt ist, kann den Kontakt mit dem Unbekannten herstellen.
Frage: Sie wollen sich also bei der documenta 9 auf das konzentrieren, was zu Beginn der 90er Jahre aktuell und wichtig ist?
Hoet: Entscheidend ist, ob ein Werk einen Aktualitätswert hat – obwohl der Künstler vielleicht 80 Jahre alt ist. So war das etwa in der documenta von Fuchs: Plötzlich war Emil Vedova wieder da. Das aber ist ein Beispiel, das nur damals funktionierte. Alles, was man heute benennt, kann in drei Jahren schon vorbei sein – nicht vorbei, was den Kunstwert betrifft, sondern, was die Notwendigkeit angeht, damit konfrontiert zu werden. Es ist daher absolut unmöglich, jetzt schon einen genauen Plan zu erarbeiten. Denn die documenta muß eine starke spontane Ausstellung sein… Darum habe ich mir. vorgenommen, daß die beteiligten Künstler so weit wie möglich nach Kassel kommen, um mit mir diese Ausstellung zu machen.
Frage: Bevorzugen Sie einzelne Räume für die Künstler oder eher das Konfrontations-Prinzip?
Hoet: Das hängt zuallererst von den Künstlern ab. Die Künstler müssen das miteinander festlegen. Aber ich möchte gern in jeden Raum einen Künstler bringen – im Prinzip.
Frage: Gibt es für Sie eine Hierarchie unter den Künstlern?
Hoet: Ja, gewiß gibt es eine Hierarchie in der Kunst.
Frage: Die wird auch in der Ausstellung sichtbar werden?
Hoet: Das möchte ich gern. Ich habe das Beispiel vorn Körper gewählt: Das Haupt hat mit der Abstraktion zu tun, denn die Abstraktion ist für mich das höchste. Hier wird die totale Autonomie der Kunst erreicht. Der Leib und die Organe haben mit Emotion zu tun – das ist die zweite Instanz…
Frage: Sie haben sehr klare Vorstellungen von der Kunst. Sie werden auch Mitarbeiter berufen, die Ihnen bei der Auswahl helfen. Ist Voraussetzung, daß diese Mitarbeiter die gleichen Vorstellungen von der Kunst haben?
Hoet: Nein. Ich suche meine Mitarbeiter auch nicht in der Museumswelt, weil ich schon ein Museumsmann bin. Außerdem brauche ich die Herausforderung, um in der Auseinandersetzung zu erfahren, wie ich es machen muß…
Ich werde zwei Kunstkritiker mit einer gesicherten Erfahrung auswählen und dann noch drei junge Leute, die so viele Informationen wie möglich heranholen können. Ich muß junge Pfadfinder haben, die alles erkunden – und dann müssen wir aussuchen. Das hat man in der Vergangenheit zu wenig gemacht. Man hatte zuviel Kontakt mit den Galeristen.
Frage: Sie haben nach Ihrer Berufung gesagt, daß Sie auch über Europa und Nordamerika hinaus- blicken wollen – auf die Dritte Welt und nach Osteuropa. Welche Mittel zur Orientierung haben Sie da?
Hoet: Das Reisen – und das muß nicht so teuer sein. Man muß nicht im Hilton-Hotel ab-
steigen, man kann auch bei Freunden wohnen…
Frage: Gibt es einen Bereich innerhalb der Kunst, der Ihrer Meinung nach in der documenta stärker herausgestellt werden müßte?
Hoet: Es ist der Bereich der Künstler.
Frage: Schließen Sie die Hereinnahme von Randbereichen (Architektur, Design) aus?
Hoet: Ja, total, wenn sie nicht in die Kunst einbezogen sind. Ich mache keine Kulturausstellung, keine politische, keine gesellschaftliche, keine Informationsausstellung. Voriges Mal gab es viel zu viel Design und viel zu viel Architektur. Natürlich war das schwierig – damals. Ich muß ehrlich sagen:
Ich bin zufrieden, daß ich die vorige documenta nicht machen mußte.
Frage: Wenn Sie eine documenta der Künstler machen wollen, wird es auch keine thematischen Abteilungen geben?
Hoet: Nein, denn für mich ist eine Zeichnung ebenso wichtig wie ein Gemälde. In diesem Fall gibt es keine Hierarchie, wie es frühere documenten gemacht haben.
Frage: Sie wollen die documenta von innen nach außen entwickeln. Denken Sie mich an die Einbeziehung des Stadtraumes?
Hoet: Auf jeden Fall. Aber das ist abhängig von den Künstlern und von dem, was ich in der Kunst gesehen habe. Zum Beispiel ist ein Dan Graham für mich draußen wichtiger. Ich möchte aber keine inhumanen Werke haben – keinen Serra. Richard Serra hätte ich vor 20 Jahren ausgewählt, aber nicht mit seinen jetzigen Arbeiten. Die finde ich zu inhuman.
Frage: Aber Serra hat gerade mit seinem letzten Beitrag sehr direkt in die Stadt gewirkt…
Hoet: Natürlich war die Arbeit draußen besser als drinnen. Doch Ulrich Rückriem war sehr viel besser – seine Arbeit hatte eine große Intimität und trotzdem eine Monumentalität. Bei Serra fehlte die Intimität, die Sinnlichkeit. Ich bin nicht gegen Serra, aber ich möchte das Humane zurückholen.
Frage: Wir waren eben bei der Raumfrage: Ihre Ankündigung, die Neue Galerie für die documenta zu fordern, hat große Unruhe bei den Staatlichen Kunstsammlungen ausgelöst.
Hoet: Das habe ich auch gewollt; das war polemisch gemeint. Ich werde sofort, wenn ich nach Kassel komme, mit Frau Heinz (Leiterin der Neue Galerie, d. Red.) darüber sprechen.
Frage: Ist die Neue Galerie ein unbedingt notwendiger Ort für die documenta oder ist sie nur dann der Ort, wenn die versprochen documenta-Halle nicht fertig ist und wenn Sie nicht noch andere Räume haben? Beispielsweise war auch eine alte Fabrik im Gespräch.
Hoet: Kunst muß in erster Linie in typischen Museumsorten zustande kommen. Eine Fabrikhalle entspricht dem Geist de 60er Jahre; eine solche Halle hat zuviel mit Funktion zu tun, sie ist zu anonym. Dagegen kann die Neue Galerie neutral benutzt werden.
Frage: Sie sind sicher, daß Sie sich mit den Kunstsammlungen einigen können?
Hoet: Wenn eine Bereitschaft gegeben ist, die Neue Galerie in die Überlegungen einzubeziehen, dann ist es nicht schwer zu zeigen, daß die Neue Galerie in den vorigen documenten nie in der richtigen Art benutzt worden ist. Wenn man die Neue Galerie einbezieht, auch unter de Bedingungen eines Kompromisses – Teile, in denen das Museum zu sehen ist, neben Teilen, die von der documenta benutzt werden dann muß man es mit Respekt vor dem Gebäude tun.
Frage: Ist es für Sie vorstellbar, daß ein Teil der Sammlung, etwa die Kunst seit den 60er Jahren, während der documenta in der Neuen Galerie bleibt?
Hoet: Das wäre eine Möglichkeit.
Frage: Der Beuys-Raum beispielsweise ist nicht ausräumbar.
Hoet: Der muß da bleiben. Dieser Raum ist wunderbar…
HNA 9. 2. 1989
–