Im Zeichen der Schwäne

Ein Schwan, der genau in dem Moment auf der Fulda landete, als das Team für die künstlerische Leitung der documenta 9 sich in einer ausweglosen Diskussion über das Bildzeichen (Signet) verfranzt hatte, brachte die Rettung. Seine Gestalt mit dem langgestreckten Hals und den noch schlagenden Flügeln wurde zum Kern des Signets erhoben. Der dynamische Schwan wurde durch sein Gegenbild, das nur scheinbar Spiegelbild ist, ergänzt – durch den majestätisch unbewegten Vogel. Um die Widersprüchlichkeit perfekt zu machen, wurde der aktive Schwan schwarz, sein stilles Schattenbild hingegen blieb weiß. Ein poetisches, ein komplexes Signet, das exakt das Fühlen und Denken in Bildern und Widersprüchen des documenta-Leiters Jan Hoet spiegelt.

Um das Signet und seine Entstehungsgeschichte kennenzulernen, mußten die Kasseler documenta-Freunde allerdings 475 Kilometer weit, in die belgische Stadt Gent, fahren, wohin Jan Hoet für Samstagabend zu einem neunstündigen „Marathon‘ geladen hatte. Mehrere hundert Künstler, Kritiker, Galeristen und Kunstfreunde, vornehmlich aus Deutschland und Belgien, waren der Einladung in das seit 1970 von Hoet geleitete Genter Museum für Gegenwartskunst gefolgt.
Dieser „Marathon“ war eine Mischung aus Publikumsinformation, Expertengespräch und Pressekonferenz. Da es alles zugleich sein wollte und nichts von dem richtig sein konnte, funktionierte es aber nicht. Am ehesten kamen die auf ihre Kosten, die das Ereignis als großes Fest begriffen.

Es war alles hervorragend inszeniert. Am Museumsportal grüßte schon von einer Fahne das ungleiche Schwanenpaar. Und wer drinnen in der großen Diskussionshalle keinen Platz fand oder nicht finden wollte, konnte in den schönen Museumsräumen auf Monitoren, zwischen deutschen Holzschnitten des 20. Jahrhunderts oder Zeichnungen von A.R. Penck, die Veranstaltung verfolgen. In den Pausen waren auf den Bildschirmen Schwäne zu bewundern, die sanft und ruhig zu getragener Musik übers Wasser gleiten. Hoet kann inszenieren.

Doch die von weither angereisten „Marathon“-Teilnehmer wußten das und wollten nicht unbedingt eine Aufführung erleben, sondern ein wenig mehr Gewißheit darüber erlangen, daß die nächste documenta wirklich auf dem vielversprechenden Weg ist, auf dem man sie nach der Berufung Hoets glaubt. Gewiß rechnete niemand mit einem fertigen Konzept, geschweige denn mit einer Künstlerliste. Eine solche Voreiligkeit hätte der documenta 9 zwei Jahre vor Ausstellungsbeginn eher geschadet. Die über 1000 Dias, die knapp und manchmal unzureichend kommentiert, über die Projektionswand huschten, konnten lediglich Erinnerungen oder Ahnungen von Künstlerarbeiten in Ausstellungen oder Ateliers vermitteln.

Ergiebig hätten Berichte von beobachteten Entwicklungen in der Kunst sein können oder – noch besser – ein intensives Expertengespräch über Erscheinungsbild, Zustand oder Rolle der aktuellen Kunst. Stattdessen wurden lang und breit die Befindlichkeiten der Ausstellungsmacher erörtert – wie sie Kunst empfinden und daß sie mit Sorgfalt und Weisheit, mit Offenheit und Enthusiasmus an die Kunst herangehen. Solange dergleichen Jan Hoet leidenschaftlich vorträgt, mag das überzeugend klingen, wenn das aber sein Mitarbeiter Denys Zacharopoulos dozierend wiederholt, werden die Leerformeln offenbar.

Immerhin gehört zu den Erträgen dieser langen Nacht von Gent, daß man erstmals Hoets komplette Mannschaft kennenlernte. Der 53jährige Belgier berief in sein vierköpfiges Arbeitsteam neben dem griechischen Kunsthistoriker Zacharopoulos (Jahrgang 1952), den italienischen Kritiker und Ausstellungsmacher Pier Luigi Tazzi (Jahrgang 1941) sowie seinen Landsmann und Mitarbeiter am Genter Museum, Bart De Baere (Jahrgang 1960). Hinzu kommt ein „Rat der Weisen“, dem die vier ehemaligen bzw. amtierenden Museumsdirektoren Meyer (Basel), Cladders (Mönchengladbach), Cousseau (Nantes) und Richardson (Baltimore) angehören.

Natürlich konnte bei dieser konzentrierten Männerriege die Frage nach den Anwältinnen für die Künstlerinnen im documenta-Team nicht ausbleiben. Auch die immer neu gestellte und besonders
aktuell gewordene Frage, ob und wie die documenta die Kunst in Osteuropa im Blick habe, wurde vorgebracht. Die Antworten fielen unverbindlich aus – das Team sei offen für alle Sichtweisen. Auch alle Versuche, schon jetzt die Konturen der nächsten Kasseler Kunstschau zu fassen zu bekommen, waren vergeblich. Sicher ist nur: Die Kunst wird sich unter Hoet wieder in die Museumsräume zurückziehen, jeder Künstler soll seinen Raum bekommen, und neben den beiden Zentren Fridericianum und documenta-Halle wird es Gastspiele mit Künstlerbeiträgen in anderen Häusern (wie Neue Galerie) geben.

Kassel und die documenta wurden in dieser Nacht vielmals als unzerbrechliche Einheit gerühmt. Diese Loblieder aber klangen angesichts der großen Entfernung zur documenta-Stadt hohl. Jan Hoet bleibt es unbenommen, in seiner Stadt vor seinem Publikum über die documenta zu diskutieren und sie zu feiern – auch mit Kasseler Gästen. Nur der „Marathon“ als internationales Signal zur öffentlichen Diskussion hätte in Kassel, im Fridericianum, stattfinden müssen. Schließlich wird das Museum Fridericianum ja vor allem mit Blick auf die documenta zwischendurch als Kunsthalle öffentlich finanziert.

HNA 5. 2. 1990

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