70 Künstler stehen fest

Wie kein anderer documenta-Leiter vor ihm ist der Belgier Jan Hoet (54) durch die Welt gereist, um in Ateliers und Galerien ein Bild von der aktuellen Situation der Kunst zu gewinnen. Ob in Australien, Kuba, Kanada, Skandinavien oder Afrika – der Genter Museumsdirektor hat versucht, sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Den Vorwurf, den frühere documenta-Macher zu hören bekamen, sie hätten nicht wahrgenommen, was in Osteuropa oder in der dritten Welt passiere, kann er sich nicht einhandeln. „Die Künstler können jedenfalls nicht sagen, daß ich nicht da war“, erklärt er nicht ohne Stolz im Gespräch.

Was aber bedeutet diese Bilderflut, der sich Jan Hoet ausgesetzt hat, für die nächste documenta in Kassel (13. Juni bis 20. September 1992)? Ist die Auswahl dadurch schwieriger geworden? Im Gegenteil: Hoet glaubt, daß, je mehr er gesehen habe, desto klarer seien seine Vorstellungen geworden, desto enger die Grenzen, die er für die documenta ziehen wolle.

Bereits heute steht für Hoet und sein Team der Kern der documenta 9 fest: 70 internationale Künstler haben inzwischen die Einladung erhalten, an der Kasseler Ausstellung in eineinhalb Jahren teilzunehmen. Und Hoet will es vorläufig bei dieser Zahl belassen, obwohl er noch eine Reihe von anderen Namen im Kopf hat. Zwar ist er sicher, daß die 70 nicht das gesamte Spektrum (qualitativer) aktueller Kunst spiegeln können. Da er andererseits aber möglichst alle Künstler dafür gewinnen will, ihre Arbeiten in Kassel an Ort und Stelle zu entwickeln und zu installieren, will er weitere Künstler erst dann dazu laden, wenn die Kosten der Installationen und der Innenarchitektur in den Ausstellungsgebäuden zu überschauen sind. Die Entscheidung über Hinzuladungen wird sechs bis sieben Monate vor dem Start der documenta 9 fallen.

Schon im Sommer hatte sich Hoet darauf festgelegt, nicht mehr als 120 bis höchstens 140 Künstler nach Kassel zu holen. Ausschlaggebend für den Umfang wird auch die Antwort auf die Frage sein, inwieweit es der documenta gelingt, über ihren 10-Millionen-Mark-Etat hinaus Sponsorengelder in Höhe von etwa drei Millionen Mark zu gewinnen: Geschäftsführer Alexander Farenholtz ist da optimistisch: Gespräche mit einem großen Konzern stünden kurz vor dem Abschluß und Verhandlungen mit drei anderen Unternehmen seien erfolgversprechend. Die documenta hat allerdings den Vertrag mit der Frankfurter Agentur Soukup/Krauss gelöst, da diese nicht innerhalb der gesetzten Frist Sponsoren-Verträge einfahren konnte.

Jan Hoet will eine Ausstellung der Künstler: Sie sollen vor Ort ihre Beiträge gestalten und sie sollen auch die Vorgaben für die Struktur der Räume liefern. Das heißt, daß für das Museum Fridericianum, die documenta-Halle und andere kleinere Ausstellungsorte wie das Ottoneum und die Neue Galerie keine Innenarchitektur vorgegeben wird, sondern daß anhand der Künstlerbeiträge die Strukturen gefunden werden – monumentale Räume für den einen, intime Kabinette für den anderen.

Die documenta 9 soll nach dem Willen Hoets zwar eine aktuelle, aber keine Zeitgeist-Ausstellung
werden. Auch scheiden für ihn alle Überlegungen aus, ethnologische oder soziologische Gesichtspunkte bei der Auswahl zu berücksichtigen. Da die documenta in Kassel stattfindet und da er (als künstlerischer Leiter) ein Europäer ist, sieht er es als selbstverständlich an, daß die Ausstellung aus „eurozentrischer Sicht“ entwickelt wird.

Natürlich gehört für ihn dazu auch die Offenheit, anderes zu berücksichtigen. Da aber die Gedanken des Modernismus, von denen wir in der Beschäftigung mit der Kunst immer noch ausgingen, in Europa begründet seien, müsse man auch von diesem alten Kontinent ausgehen. Das Werk eines kubanischen Künstlers, so Hoet, sei eben dann erst wesentlich, wenn es aus seiner lokalen Einbindung in den Dialog des Modernismus eintrete und diesen bereichere.

Bei der Annäherung an die documenta 9 ist für Hoet die nächste Station der 24- Stunden-Marathon in der Klassiker-Stadt Weimar am 13. und 14. April 1991. Bei diesem Marathon, an dem auch die früheren documenta-Leiter Szeemann, Fuchs und Schneckenburger teilnehmen sollen, will Hoet anhand von Lichtbildern die Fülle, ja, die Konfusion vorstellen, aus der das documenta-Konzept erwächst. Er will auch deutlich machen, was er nicht ausstellt, um dann umso besser seine Auswahl (in ihrer Verwundbarkeit) begründen zu können. Weimar hat Hoet als die Geburtsstadt des Bauhauses ausgewählt – denn die erste documenta habe einen starken Bezug zum Bauhaus gehabt. Hoet: „Ich bin ein Mann der Geschichte.“

HNA 27. 11. 1990

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