Die ersten Umrisse

Die Umrisse der für den Sommer 1992 geplanten documenta 9 in Kassel werden sichtbar. Wer sich am vergangenen Wochenende in Weimar auf den 24-Stunden-Marathon mit documenta-Leiter Jan Hoet und seinem Team einließ, konnte vor allem im letzten, sehr konzentrierten Drittel der Gespräche und Diskussionen eine Vorstellung davon gewinnen, mit welchen Formen der Kunst wir es im nächsten Jahr in Kassel zu tun haben werden.

Hatten 1972 bei der documenta 5 Harry Szeemanns die „individuellen Mythologien“ im Zentrum gestanden, prägte Hoet nun – mit Rückbezug auf Szeemann – spontan den Begriff der „individuellen Wirklichkeiten“, die er 1992 zeigen will. Was meint er damit? In seiner Schlußbilanz, die Hoet nach 23 Stunden in Weimar zog, ging er auf die zahlreichen globalen und nationalen Probleme ein, die die Menschen belasten und bei ihnen Unsicherheit und Zukunftsängste produzieren. Man könne nicht genug mit diesen Realitäten konfrontiert werden.

Und gerade die jüngeren Künstler würden sich heute weltweit nicht um die ideale Kunst scheren, sondern würden stark auf die Wirklichkeit reagieren. Dementsprechend bekannte er sich mit Blick auf seine Auswahl zu einer Kunst, die sich auf die Realität unmittelbar einläßt und trotzdem stark, dynamisch und autonom ist. Er zitierte dabei den bereits nominierten Düsseldorfer Künstler Thomas Schütte, der gesagt habe: „Wir machen Dinge, aber keine Kunst.“

Für Hoet sind die Amerikaner Cady Noland und David Hammons zwei anschauliche Beispiele dafür, daß Künstler unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit und ihre Widersprüche reagieren. Erneut ließ er deutlich werden, daß die documenta 9 weder mit Abteilungen noch mit Kategorien arbeiten will. Die 125 Künstler werden nicht nach Techniken oder Stilen ausgewählt. Was allein zählt, sind die Positionen, die sie heute in den Kunstszenen vertreten, und die Intensität, mit der sie es tun. Nachdrücklich beanspruchte Hoet für sich das Recht als documenta-Leiter, bei der Auswahl der Künstler seiner erprobten Intuition zu folgen, das Unbekannte und das Mysterium in der Kunst zu suchen.

Hoet will – im Gegensatz zur Forderung seines Kollegen Rudi Fuchs, der die documenta 7 organisierte – die bekannten und immer noch dynamischen Positionen mit den neuen konfrontieren, er will den Generationensprung, den Ausdruckswechsel deutlich machen. Mario Merz beispielsweise pries er in Weimar als einen Künstler, der sich gerade im letzten Jahr mit seinen Arbeiten selbst übertroffen habe und ganz jung erscheine. Neben Merz wird Hoet zur d 9 von den älteren (und schon documenta-erfahrenen) Künstlern unter anderem auch Gerhard Richter, Bruce Nauman, Sigmar Polke, Per Kirkeby, Michael Buthe, Michelangelo Pistoletto, Joseph Kosuth, A.R. Penck und Ellsworth Kelly einladen.

Der Genter Museumsdirektor, der der documenta neue Impulse geben will, geht äußerst geschickt vor: Mehr als jeder seiner Vorgänger bezieht er das interessierte Publikum in seinen Entscheidungsprozeß ein und läßt es teilhaben an seinen Erkundungen. Um nun, ein gutes Jahr vor dem Start der Kasseler Weltkunstschau, auch schon einen Teil der Neugierde zu befriedigen, andererseits aber auch die Spannung wachzuhalten, legte er beim Gesprächs-Marathon in Weimar eine Liste mit 67 Künstler-Namen vor, die für ihn schon feststehen (in Wirklichkeit ist er mit seinem Entscheidungsprozeß schon längst weiter). Indem er nun von diesen 45 Künstler in den Vordergrund rückte, die documenta-Neulinge sind, ließ er offen, in welchem Zusammenhängen die Arbeiten zu sehen sein werden.

Immerhin wurde erkennbar, daß die nächste documenta sehr viel stärker als die vorigen Ausstellungen Außenseiter einbeziehen wird. Dabei wird das Spektrum vom radikalen (kritischen) Fotorealismus in der Malerei über ornamentale und naive Ausprägungen bis hin zum Konstruktivismus reichen. Mehr als früher werden Künstler der amerikanischen Westküste, Südamerikas und Osteuropas vertreten sein. Das Zentrum und die Herausforderung für Hoets Auswahl ist Bruce Nauman Werk, in dem er alles entdeckt – Fiktion, Form, Emotion, Humor und Realität.

Im Verlaufe des 24-Stunden- Marathons in der Weimarhalle der Goethestadt schwanden bei denjenigen, die bis zum Schluß ausgeharrt hatten, allmählich einige der Zweifel am Sinn der Veranstaltung. Mochten viele der genannten Künstlernamen den Zuhörern auch nichts sagen, so wurde doch vor dem Hintergrund der zahllosen Dias deutlich, in welchem Kontext sie zu sehen sind. Das ursprüngliche Ziel, bei diesem Marathon in einen intensiven Dialog mit den Deutschen zu kommen, in den vergangenen Jahrzehnten von der Kunst der Moderne abgeschnitten waren, wurde nicht erreicht. Nur einzelne Ostdeutsche hatten sich in Weimarhalle verirrt. Einer ihnen aber hatte in der Nacht zum Sonntag inmitten eines Aufstands gegen die Marathon-Produzur sich so kräftig Luft gemacht, daß für einige Zeit das ganze Unternehmen in Frage stand: Mit seinen persönlichen und fundamentalen Hinweisen auf die für viele Ostdeutsche Moment perspektivlose Situation hatte der junge Mann bewirkt, daß Jan Hoet, wie er Sonntagabend bekannte, einen Moment lang dachte: „Hat noch Sinn sich mit Kunst zu beschäftigen, wenn die Realität stark ist?“. Doch Hoet machte weiter.

HNA 16. 4. 1991

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