Die Szene ist reicher geworden

Sein Ursprungsziel, die docoumenta 9 mit 125 Künstlern zu bestreiten, kann Jan Hoet nicht halten. Jetzt peilt er über 150 Teilnehmer an.

Es ist fast jedes mal das gleiche Ritual: Der künstlerische Leiter der Kasseler documenta tritt mit dem Versprechen an, eine relativ strenge und damit kleine Auswahl zu treffen. Je weiter er sich aber in die Arbeit vertieft hat und je mehr Künstler bereits benannt sind, desto klarer wird, daß die ursprüngliche Zielvorgabe nicht zu halten ist. So verlängert sich stets die Künstlerliste, je fester umrissen die Ausstellungspläne werden.

Dem Belgier Jan Hoet, der die für den nächsten Sommer (13. Juni bis 20. September 1992) angesetzte documenta 9 vorbereitet, geht es da nicht besser. Vor einem Jahr war er noch sicher, daß er die Zahl der einzuladenden Künstler auf eine Zahl zwischen 125 bis 140 begrenzen könne. Doch zehn Monate vor dem Start stehen für ihn schon 140 Namen fest – und die Liste der deutschen und italienischen Künstler ist noch nicht komplett, und außerdem will er noch offen bleiben für Neuentwicklungen. Also gibt Hoet jetzt selbst zu: „Wir brauchen mehr als 150 Künstler.“

Zwei Gründe nennt Hoet im Gespräch für die Abkehr von seinem Vorsatz: Auf der einen Seite sei die Kunstszene in der jüngsten Zeit reicher geworden, zum anderen habe er durch seine Erkundungsreisen rund um die Welt neue Maßstäbe gewonnen. Insgesamt sei eine größere Dynamik spürbar; die Suche nach der Form spiele nicht mehr eine so große Rolle wie die Vertiefung der Intensität.

Die Schlüssel-Erfahrung ist nach Hoet, daß die Gegensätze zwischen den Künstler-Generationen noch nie so groß gewesen seien wie in der aktuellen Situation. Damit ist auch die Grundstruktur für die Kunstschau im nächsten Sommer vorgegeben: Die Ausstellung soll aus einem Wechselspiel
von Konfrontationen und Dialogen bestehen, so daß die unterschiedlichen künstlerischen Haltungen unmittelbar von den Besuchern erfahren werden sollen. Wie bereits bei der von Rudi Fuchs geleiteten documenta 7 wird es dazu kommen, daß einzelne Künstler an mehreren Orten vertreten sind.

Die gestiegene Zahl und Konzept bedingen nach Hoet, daß über das Museum Fridericianum und die im Bau befindliche documenta-Halle hinaus ein dritter großflächiger Ausstellungsort hinzugewonnen wird – und zwar temporäre Ausstellungspavillons in der Karlsaue. Der Bau der 1600 Quadratmeter großen Pavillons erfordert allerdings zusätzlich zum Zehn-Millionen-Etat weitere 2,5 Millionen Mark.
Das Land Hessen und die Stadt Kassel haben die Erhöhung Zuschüsse zugesagt, falls die documenta ihrerseits Sponsoren findet. Nachdem mit dem „Time“-Magazine und Renault erste Finanziers gefunden den, ist die documenta-Leitung zuversichtlich.

Außerdem setzt Jan Hoet darauf, documenta-Teilnehmer dafür zu gewinnen, Grafiken zu entwerfen, die als eine documenta-Edition herausgegeben werden könnten. So könnte eine neue Einnahmequelle schlossen werden.

HNA 13. 8. 1991

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