Museum, Haus oder Wohnung?

Die Ausstellung „Chambres d’amis“ (Zimmer der Freunde) hatte 1986 den Genter Museumsdirektor Jan Hoet mit einem Schlage berühmt gemacht: Er hatte dem Museum den Rücken zugekehrt und 59 Künstler ihre Arbeiten in 59 Privatwohnungen der belgischen Stadt Gent einrichten lassen. Die aus dem Museumstempel ins Private verlagerte Kunst gewann neue Dimensionen, sie veränderte Wohnungen, veränderte aber auch sich selbst. Kunst wurde in neuen Zusammenhängen erlebbar.

Als Hoet vor zwei Jahren zum künstlerischen Leiter der documenta 9 berufen wurde, war klar, daß er auf die Kasseler Kunstschau nicht das Rezept von „Chambres d‘amis“ übertragen konnte. Ja, es wäre geradezu absurd erschienen, die Weltausstellung der Kunst in Privatwohnungen zu verlegen. Hoet selbst hatte da auch von Anfang an keine Mißverständnisse aufkommen lassen.

Doch je länger der belgische Museumsmann an seinem documenta-Konzept arbeitet, desto klarer wird, daß „Chambres d’amis“ nicht nur ein Ausflug ins Exotische war, sondern für seine Ausstellungsplanungen Folgen hat. Als Hoet und sein Team am vergangenen Wochenende, wie berichtet, mit neun Künstlern über die Möglichkeiten der documenta 9 diskutierten, da ging es vornehmlich um die räumlichen Strukturen.

Mit aller Entschiedenheit erteilte Hoet dem Museum als Tempel eine Absage. Natürlich weiß er, daß er das Museum, also das Fridericianum und die im Bau befindliche documenta-Halle nutzen muß. Aber ihm ist Angst vor Weihetempeln und Korridoren. Wenn er an der documenta baut, dann soll ein Haus daraus werden, eine sinnvolle Abfolge von unterschiedlichen Räumen mit jeweils eigenem Klima.

Folglich ist für ihn die Einrichtung einer documenta nicht bloß eine Frage der Quadratmeter sondern der Räume sowie deren Gliederung und Geschichte. Um möglichst unterschiedliche Klimata für die Bedürfnisse der Kunst erzeugen zu können, will er die nächste documenta einem Wechselspiel von historischen Räumen (Fridericianum als ältestem Museumsbau und Ottoneum als erstem festen Theater), dauerhaften Neubauten (documenta-Halle) und provisorischen Hallen (Pavillons in der Aue) aussetzen.

Auf der anderen Seite will das documenta-Team in Zusammenarbeit mit den Künstlern eine Struktur für die einzelnen Gebäude finden, die aus den gegebenen Bauten Häuser mit Wohnungen werden lässt. Am einfachsten wird das in der Neuen Galerie sein, in der sich etwa zehn Künstler mit ihren Arbeiten in Korrespondenz oder Widerspruch zur bestehenden Sammlung einnistensollen. Doch auch das Fridericianum soll innenarchitektonisch so gegliedert werden, dass eine dialogartige Abfolge von Räumen entsteht. Allerdings will Jan Hoet die Grundlinien der klassizistischen Architektur nicht antasten. Sie sollen durch die Einbauten hindurch sichtbar bleiben.

HNA 26. 2. 1991

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