Als der im russischen Witebsk geborene Marc Chagall zu malen begann, stand der Jugendstil in seiner Blute, begannen die Wilden (Fauves) in Frankreich die traditionelle Bilderwelt aufzubrechen, wurde der Aufbruch der Moderne eingeleitet. Heute, 75 Jahre später, da vielen die atemberaubende Entwicklung der modernen Kunst mit ihren zahlreichen und unterschiedlichen Stilausprägungen als ein abgeschlossenes Kapitel erscheint, malt Chagall immer noch und hat nichts von seiner Faszination als eines Künstlers der Moderne eingebüßt.
Der ungebrochene Erfolg dieses sehr volkstümlichen Malers hat mehrere Ursachen: Schon als 20jähriger kam er an der Kunstschule im damaligen St. Petersburg mit den zeitgenössischen westlichen Strömungen in Berührung, so daß er sich 1910 entschied, nach Paris überzusiedeln. Er sog die neuen Ideen auf – das Aufbrechen der Bildebene und den freien Umgang mit der intensiven Farbe - machte sie nutzbar für sich, ohne einer Schule verpflichtet zu bleiben.
So blieb seine Kunst über die Stilwandlungen der Zeit hinweg unangefochten eine Mittlerin zwischen Tradition und Moderne. Zu dieser Mittlerrolle gehört auch, daß er stets ein poetischer Erzähler blieb, der die melancholischen
Tiefen des Ostjudentums mit der spielerischen, befreienden Sprache des weltlichen Westens verknüpfte. Seine Bilderfolgen zur biblischen Geschichte schließlich sollten zur versöhnenden Brücke zwischen Christentum und Judentum werden.
Marc Chagall blieb immer ein Einzelgänger. Wenn er oftmals als einer der Väter des Surrealismus bezeichnet wurde, konnte sich die Einschätzung nur auf seine wie aus einem Traum herausgelösten Bilder beziehen, nicht aber auf seine Haltung. Schwebende Paare, auf Dächern stehende Tiere und stürzende Hausfronten sind Bestandteile einer phantastischen Bilderwelt, die sich zu den inneren Visionen bekennt. Ich befasse mich mit dem Raum der Seele. Die anderen Künstler stehen vor der Natur. Ich habe sie in mir, hat Chagall einmal formuliert. Und zum von der Seele durchdrungenen Bild gehört auch die kraftvoll leuchtende Farbe, die sich aus den wirklichen Bezügen gelöst hat und den Menschen und Dingen eine neue, von innen bestimmte Farbigkeit zuordnet.
Chagalls Malerei, die bei aller Neigung zur Melancholie stets auch heiter ist, hat unser Bild von der russischen Seele, vom Leben der Russen und Ostjuden in den Dörfern und Kleinstädten, wesentlich geprägt, auch wenn dies meist nur auf indirektem Wege geschah, Chagall ist in seinem langen Künstlerleben allerdings nicht nur der aus historischen und religiösen Bezügen Schaffende gewesen, sondern hatte sich einige Jahre lang auch von der russischen Revolution mitreißen lassen. Wie viele Avantgarde-Künstler jener Zeit glaubte 1917 der aus Paris heimgekehrte Maler an eine umfassende, humane Revolution. Er malte agitatorische Bilder und leitete einige Jahre lang in seiner Heimatstadt eine Kunstschule. Doch 1923 war die Utopie zerbrochen; er kehrte nach Paris zurück.
Seit über 30 Jahren lebt Chagall in Vence bei Nizza, wo er heute auch seinen 95. Geburtstag begeht. In Nizza steht auch das dem Künstler gewidmete Nationalmuseum Biblische Botschaft. Die Gemälde, Grafiken und Glasfenster zu biblischen Themen haben in den Nachkriegsjahren Chagall weltweit zu dem künstlerischen Interpreten jüdisch-christlicher Botschaft werden lassen. Aufgrund der Initiative des Pfarrers Klaus Mayer war es in den letzten Jahren gelungen, den immer noch tätigen Künstler zur Gestaltung von Fenstern für die Kirche St. Stephan in Mainz zu gewinnen.
HNA 7. 7. 1982