Visionen vom Paradies

Marc Chagall ist einer der populärsten Maler dieses Jahrhunderts. Seine heiter-melancholischen Bilder mit ihren glühenden Farben und schwebenden Paaren haben weit über die engen Grenzen der Kunstwelt hinaus Freunde gefunden. Die Poesie dieser Malerei mag für diesen andauernden Erfolg ebenso ausschlaggebend sein wie die Botschaft der Hoffnung und der Liebe, die aus diesen Bildern spricht. Allerdings ist der aus Russland stammende und in Südfrankreich lebende Chagall auch auf diese Bildbotschaft verengt worden. Zahlreiche seiner Motive sind zu modischen Klischees verkommen.

Die bis Ostermontag in der Kestner-Gesellschaft Hannover laufende Chagall-Ausstellung, in der 200 Arbeiten auf Papier gezeigt werden, durchbricht diese Einengung, Staunend erlebt man ein Panorama, das in acht Jahrzehnten gewachsen ist und das den Künstler weitaus kantiger, widersprüchlicher und vielfältiger erscheinen läßt. Die ältesten Bilder stammen von dem 20ährigen Chagall, die jüngsten malte er vor zwei Jahren – mit 95.

Diese jüngsten großformatigen Zeichnungen (Tinte mit grauer Lavierung) hinterlassen den stärksten Eindruck, nicht etwa, weil es die besten wären, sondern weil sie wirklich so etwas wie ein Alterswerk markieren: Der poetisch-heitere Ton ist ungebrochen, die Welt erscheint wie eine mögliche Vision vom Paradies. Die Bilder aber sind durchsichtiger geworden, die Farbigkeit ist durch Tonigkeit ersetzt. Chagall zeichnete selten in weit ausholenden Linien. Nun sind seine Striche noch kürzer, nervöser geworden; und doch entstehen aus den kurzatmigen Strichen immer noch die elegant turnenden und schwebenden Figuren oder die Silhouetten geduckter Dörfer.

Die Arbeiten auf Papier (Zeichnung, Aquarell, Gouache, Tusche und Mischtechnik) haben durchweg Entwurfs-Charakter in ihnen notierte und formulierte Chagall erste Einfälle und Visionen, die er später oftmals in größere Formate (Ölgemälde, Bühnenbilder) umsetzte. Diese Blätter öffnen den Zugang zu den Ursprüngen der Kunst Chagalls. Vor allem einige frühe Arbeiten dokumentieren, wie intensiv sich der junge Künstler mit den verschiedensten Kunstströmungen (Kubismus, Konstruktivismus) auseinandersetzte, ohne ihnen zu erliegen. In eben dieser Zeit unternahm er auch einige kraftvolle Ausbruchsversuche, die ihn ganz unverhofft zu einem Vorbild der zeitgenössischen „Neuen Wilden“ machen („Kopf mit Nimbus“, „Akt“ von 1913).

Obwohl Chagall die längste Zeit seines Lebens in Frankreich verbracht hat, wurde die Erinnerung an seine russisch-jüdische Herkunft nie verschüttet. Doch er war nicht nur der Maler der russischen Seele, sondern auch über einige Jahre hinweg ein Künstler der revolutionären Vision: 1914 von Paris nach Russland zurückgekehrt, erhoffte er wie viele andere progressive Künstler von der Revolution den Beginn einer neuen Zeit; doch 1923 verließ er die Sowjetunion für immer. Mit einigen guten Arbeiten dokumentiert die Ausstellung auch diese politische Seite in der Biographie Chagalls.

HNA 29. 3. 1985

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