Genau jetzt wäre der Zeitpunkt gegeben, den Reichstag einzupacken. Noch hat er nicht seine neue Funktion als Sitz des Bundestages, sondern ist er bloß der modernisierte Wiederaufbau eines zerstörten Parlaments. So könnte das Verhüllen und danach das Enthäuten dieses geschichts- und symbolbeladenen Gebäudes seinen Wandel für alle Welt sichtbar machen. Eine Chance fürwahr.
Doch die Hoffnung, in Deutschland könnte einmal die Kunst der Politik anschaulich ihren Bedeutungswandel vorführen, schwindet. Nach dem Bundeskanzler distanzierte sich nun auch Wolfgang Schäuble, der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, von Christos Projekt. Die Zeit läuft. Wenn Christo jetzt nicht den Reichstag einpacken kann, ist die Geschichte für immer erledigt. Allein der Übergang erlaubt die Aktion.
Was Politiker wie Kohl oder Schäuble aber übersehen, ist, daß sie Christos Verpackungsaktion gar nicht mehr ungeschehen machen können: Kaum ein anderes Kunstprojekt hat über Jahre hinweg die Politiker so intensiv beschäftigt wie die Vision, der Berliner Reichstag könnte unter den Tüchern und Einschnürungen als eine neue, kompakte Form erstehen.
Noch mehr: Christos dutzendfach in Zeichnungen und Collagen verbreiteten Projektionen vom verpackten Reichstag ließen für die Kunstwelt die Aktion sich schon vollziehen, obwohl der Weg in der Wirklichkeit noch gar nicht bereitet war. Die Parteigänger Christos haben das bezwingende Bild vom verpackten Reichstag längst vor Augen. Sie brauchen den Sprung in die Wirklichkeit eigentlich gar nicht mehr. Und manches spricht dafür, daß jedes Negativ-Votum aus der Politik die Christo-Fraktion nur stärkt. Am Ende können die Politiker einpacken mit ihrer Ablehnung, weil sie gegen die Bilder in den Köpfen nicht mehr ankommen.
HNA 29. 1. 1994