Kunst für das ganze Volk

Ein wohl einmaliger Moment in der Geschichte des Berliner Reichstages. Er steht im Mittelpunkt eines riesigen heiteren Volksfestes, das die Kunst ermöglichte.

Wer jetzt keine Geschäfte macht, macht nie welche. Hier wird alles verkauft – von den Kirschen aus Werder über die Ehrenabzeichen der DDR bis hin zu den Postkarten, Plakaten und Büchern, die dem Thema gewidmet sind, um dessentwillen Hunderttausende auf dieses Gelände gekommen sind.

Der Reichstag in Berlin ist unter der schimmernden Hülle, die Christo und seine Frau Jeanne-Claude ihm überstreifen ließen, verschwunden und als eine plastische Figur wieder auferstanden. Und diese strahlende Skulptur, die sich mit dem Wechsel des Lichts beständig ändert, hat magnetische Wirkung, übt einen Zauber aus und beschwingt. Ein großes Volksfest ist im Gange, das sich kein Organisator so heiter hätte ausdenken können.

Es ist ein historischer Moment. Für den Reichstag selbst, wie schon vielfach beschrieben worden ist, aber auch und vor allem für die Kunst. Selbst wenn manche der Passanten und Bewunderer mit Christos Kunstverständnis nichts anzufangen wissen, so haben sie doch begriffen, daß eben dies nur die Kunst bewirken konnte. Doch etwas anderes zählt weit mehr: Auf einmal scheint die Grund-
regel außer Kraft gesetzt zu sein, die besagt, daß das, was die Massen anzieht, vor den Augen der Kritiker keinen Bestand hat, und daß dagegen jenes, was die Kritik lobt, nicht populär ist. Denn nun sind sie sich alle einig in der Faszination. Die Reichstagsverhüllung ist eine Kunstaktion für das ganze Volk.

Christo und Jeanne-Claude haben der Welt ein Bild geschenkt, das seit einem Vierteljahrhundert existiert. Zuerst befand es sich nur in den Köpfen des Künstlerpaares. Dann gelang es den beiden, das Bild anderen einzupflanzen und die zu ihren Anhängern, Freunden und Mitstreitern zu machen. Jetzt endlich hat das Bild eine für alle sichtbare, plastische Gestalt gewonnen.

Das Unglaubliche daran ist, daß die reale Form des verhüllten Reichstages exakt dem Bild entspricht, das Christo seit Jahren in Dutzenden von Variationen propagierte. Die Überraschung besteht in der Übereinstimmung von Traum und Wirklichkeit. Wann erlebt man das schon mal in der Architekturdiskussion, daß der Entwurf bis ins Detail die Wirkungen beschreibt, die das fertige Werk erzielt?

Natürlich gibt es weiterhin die Menschen, die auf Distanz bleiben oder das Projekt ablehnen. Trotzdem ist zu unterstellen, daß der verhüllte Reichstag auch dessen Gegner verändert. Wenn beispielsweise der Kanzler trotzig verkündet „Ich sehe ihn mir nicht an“, dann wird Christo darauf listig einwenden können, das brauche er auch gar nicht, da sich sicherlich auch in seinem Kopf das Bild festgesetzt habe. Gerade die Abwehr von Ideen trägt dazu bei, daß sich diese tief einbrennen.

HNA 4. 7. 1995

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