Auch wenn der Bundestag gegen Christos Plan entschieden hätte, den Reichstag zu verhüllen, wäre dies eine große Stunde des Parlaments gewesen. Gegner wie Befürworter hatten in seltener Einmütigkeit demonstriert, daß sie sich behutsam einem schwierigen Thema nähern können und daß dem Populismus nicht die entscheidende Karte gehören muß.
Politik und Kunst standen und stehen in Deutschland immer eher in einem Spannungsverhältnis. Umso erfreulicher ist, daß sich der Bundestag eine Stunde lang mit einem konkreten Kunstprojekt beschäftigte und zudem alle in dem Punkt einer Meinung waren, daß sich das Parlament nicht zum Kunstrichter aufschwingen dürfe. Das heißt: Diejenigen, die es ablehnen, in Christos Projekt zur Reichstags-Verpackung eine Sache der Kunst zu sehen, wurden durch den Beschluß nicht in die Ecke gestellt. Der Bundestag ließ diese Frage völlig außer acht. Er genehmigte lediglich die Aktion
Mehr nicht. Das ist die eine Seite.
Die andere ist das Abstimmungsergebnis, das selbst für die Parteigänger Christos und die Optimisten überraschend kam. Wer hätte das – vor allem nach Schäubles staatstragender Rede – geglaubt, daß das Bonner Parlament diese Gelassenheit an den Tag legen würde, die Freimut Duve gefordert hatte?
Eine Stunde des Parlaments – fürwahr. Gerade in einer Zeit, in der Kultur und Kunst auf allen Ebenen aus finanziellen Gründen zur Disposition gestellt werden, gab der Bundestag ein erfreuliches Zeichen. Er gestand der Kunst den Freiraum zu, den sie braucht, und er bewies Souveränität im Umgang mit Fragen, für die er im Grunde nicht zuständig ist.
Jetzt, da die Entscheidung gefallen ist, kann man nur dankbar sein, daß der Ätestenrat den Ball an den Bundestag weitergab. Das Parlament ließ sich geradezu vorbildlich in die Pflicht nehmen.
HNA 26. 2. 1994