Blick in Chagalls Zaubergarten

Im Grand Palais von Paris läuft, wie berichtet, bis zum 23. Juni eine große Werkschau des russisch-französischen Malers Marc Chagall (1887-1985). Ihr Schwerpunkt ist das relativ unbekannte Frühwerk des Künstlers aus dem weißrussischen Witebsk, der nach einem ersten Paris-Aufenthalt für kurze Zeit Parteigänger der Revolution in seiner Heimat gewesen war.

Mit einer solchen repräsentativen Schau kann die Chagall-Ausstellung, die in der Kasseler documenta-Halle gezeigt wird, natürlich nicht konkurrieren. Trotzdem verfügt die Schau über den Reiz des Einzigartigen. Sie vereinigt nämlich 220 der 1050 Lithografien aus der Sammlung von Charles Sonnier, der als Drucker rund 30 Jahre lang Mitarbeiter und Partner Chagalls in Paris war.

Chagall hatte wohl schon als junger Künstler erste Erfahrungen mit dem Steindruckverfahren, der Lithografie, gesammelt. Doch das Bedürfnis, seine so populär gewordene Bilderwelt in eine Drucktechnik umzusetzen, die den malerischen Charakter bewahrt, verspürte er erst im fortgeschrittenen Alter.

Ab Mitte der 50er-Jahre begann er eine intensive Produktion von Lithografien, Einzeldrucke und Mappenwerke, die alle in Zusammenarbeit mit Sonnier entstanden. Der Drucker erhielt vom Künstler jeweils ein Andruck-Exemplar, das häufig durch eine Widmung, eine kommentierende Zeichnung oder eine besondere Übermalung den Charakter eines Originals erhielt. Der Geist und die Handschrift des Künstlers werden auf diese Weise spürbar.

Die Ausstellung kann man als eine repräsentative Auswahl aus dem im letzten Lebensdrittel entstandenen grafischen Werk Chagalls ansehen. Auch lässt sich gut verfolgen, wie der Künstler anfangs sich auf Bilder konzentrierte, die den poetischen Farbenrausch der Malerei spiegelten. In der Spätzeit jedoch setzten sich mehr die Bilder durch, in denen die (schwarzen zeichnerischen Elemente überwogen.

Die Besucher der Ausstellung wandern in den drei Kabinetten und der großen Halle wie durch ein aufgeschlagenes Bilderbuch. Ohne eine besondere Schwerpunktsetzung oder inszenatorische Gewichtung sind die Bilder gleichrangig nebeneinander aufgereiht, wobei die Reihenfolge ihres Entstehens und die thematische Gliederung den Ablauf bestimmen.

Mehrere Mappenwerke werden komplett vorgestellt – die Bildzyklen zur Bibel, zum
Exodus und zu Daphnis und Chloé. Die Besucher können einen Blick in den Zaubergarten Chagalls werfen, in dem so vieles poetisch, leicht und schwebend erscheint. Die Kompositionen mit den Blumenwiesen und Liebespaaren haben dazu geführt, dass diese Bilder oft als dekorativ abgetan wurden. Befördert wurde das dadurch, dass Chagalls Kunst zwar neu war; aber im Gegensatz zur Moderne stand.

Nimmt man sich Zeit zum Studium der Lithografien, dann erschließen sich eine große Tiefe und Doppelbödigkeit. Hinter der Heiterkeit scheint Melancholie auf, und immer wieder wird klar, dass der Traum vom Paradies brüchig geworden ist. Von ungeheurer Dramatik aber sind die Blätter, in denen Chagall die Vertreibung und Verfolgung de Juden thematisiert. Traum und Traumatisierung liegen dich beieinander.

HNA 4. 4. 2003

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