Die Zeit scheint vergangen zu sein. Die Grenzen sind aufgehoben, und die Gesetze der Schwerkraft gelten nicht mehr. Farben glühen auf. Paare schweben in der Umarmung dem tiefblauen Himmel zu, begleitet von Fabelwesen. Ruhe und Gelassenheit, Harmonie und Liebe herrschen überall. Es ist, als wäre das Paradies zurückgekehrt.
Der Maler Marc Chagall, der heute vor 100 Jahren geboren wurde und vor etwas über zwei Jahren starb, hat der Welt unvergleichlich schöne Bilder voller Poesie geschenkt. In ihnen werden Träume wahr, zugleich sind sie Boten der Hoffnung und Liebe. Chagall ist einer der wenigen Künstler dieses Jahrhunderts, die der Kunst neue Wege eröffnen und dabei immer volkstümlich bleiben konnten.
Das Geheimnis dieses Erfolges ist darin zu suchen, daß Chagall einerseits sehr früh in Paris den Anschluß an die Bahnbrecher der neuen Kunst fand, daß er andererseits aber nie seine jüdisch-russischen Wurzeln vergaß. Er gab einem bedrängten Volk seine Träume und Hoffnungen zurück und wurde dabei zu einem Maler, der neue Brücken zwischen dem Judentum und dem Christentum baute.
Chagall schuf zahllose Bilder begleitend zu Textvorlagen. Diese Arbeiten waren stets mehr als Illustrationen, sie waren Interpretationen oder bildnerische Nachdichtungen. Ein gutes Beispiel dafür liefert das vor kurzem erschienene Bändchen Arabische Nächte (Serie Piper Galerie, München, 50 S., 14.80 DM) mit seinen farbensprühenden Bildern zu Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.
Obwohl der spielerische Ton, die Heiterkeit und die Hoffnung seine Bilder durchströmen, war Chagall nie ein Künstler, der sich nicht der politischen Realität gestellt hätte. 1917 setzte er
– wie viele andere russische Künstler – auf die Revolution, auf den neuen Menschen und
eine neue Kunst hoffend. Und 20 Jahre später bezog er in seinen Visionen Motive des Schreckens ein, den die Nazi-Herrschaft verbreitete.
Marc Chagall blieb es vergönnt, bis in seine letzten Lebenstage hinein schöpferisch tätig zu sein. Neben seinen Gemälden und den vielfach reproduzierten Lithographien entwarf er zahlreiche Wandgemälde und Glasfenster großen Formats. Bereits 1920 hatte er für das Jüdische Theater in Moskau Inszenierungen ausgestattet und Wandbilder gestaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf er
Glasfenster für die Synagoge Jerusalem, für die Kathedrale von Metz, das Haus der Vereinten Nationen in New York, Frauenmünster in Zürich, Kathedrale in Reims und für die Stephanskirche in Mainz.
Derzeit (bis 2. August) wird Marc Chagall mit einer Ausstellung malerischer Arbeiten Papier (Aquarelle und Gouachen) aus seinem Frühwerk der Stadthalle Balingen geehrt. Die Schau mit ihren 65 Blättern, die aus sechs Ländern herangeholt wurden, gilt als eine nicht so schnell wiederholbare
Attraktion.
HNA 7. 7. 1987