Einzigartige Schule des Sehens

„Wir werden nicht eine Million Besucher bekommen,“ meinte Achim Middelschulte ‚ Vostandsmitglied des Sponsors eon-Ruhrgas, mit Blick auf die „Moma“-Ausstellung, die morgen in Berlin endet. Wenn man schon diesen Vergleich zieht, dann muss man sagen, dass die heute im Essener Museum Folkwang beginnende Cézanne-Ausstellung auf Grund ihrer Qualität zwei Millionen Besucher verdienen würde. Sie bildet wahrlich einen Höhepunkt im Ausstellungsjahr.

Das, was die Schau des New Yorker Museums of Modern Art (Moma) nur in Ansätzen leistet – nämlich zum vergleichenden Studium der Bilder einzuladen – ist in Essen hingegen das Grundprinzip. Die Besucher erleben nicht nur eine Fülle erstrangiger Meisterwerke, die aus aller Welt zusammengetragen wurden; sie werden außerdem in eine einzigartige Schule des Sehens hineingelockt.

Denn der Cézanne-Kenner Felix Baumann hat zusammen mit Walter Feilchenfeldt die rund 100 Gemälde thematisch gruppiert, so dass man geradezu zum genauen Studieren herausgefordert wird.
Wie bei der großartigen Schau „Vincent van Gogh und die Moderne“ (1990) hat das Essener Museum um das Werk des Künstlers, der der Ausstellung ihren Namen gegeben hat, Bilder von jenen Malern vereint, die von ihm direkt beeinflusst wurden. Genau dadurch wird das Projekt unvergleichlich.

Paul Cézanne (1839-1906) gilt seit knapp 100 Jahren als der Pionier der Moderne. Allerdings war der Eigenbrötler, der lieber in seiner Heimat Aix-en-Provence als in der Kunstmetropole Paris lebte, über viele Jahre von Zweifeln geplagt. Er wurde von der Kritik gescholten und fand erst in den letzten Lebensjahren Anerkennung. Immerhin besuchte ihn kurz vor seinem Tod Karl Ernst Osthaus, der Begründer des Museums Folkwang, um von Cézanne Bilder zu kaufen. Darin liegt der tiefere Grund für das Essener Ausstellungsprojekt.

Aber während die Öffentlichkeit erst nach dem Tod des Künstlers Gefallen an seinen Bildern fand, entdeckten frühzeitig jüngere Maler Cézanne als ihr Vorbild und ihren Lehrer. Die Ausstellung kann das gleich mehrfach dokumentieren: Im Eingangsbereich hängt das großformatige Gemälde „Hommage à Cézanne“, das Maurice Denis 1900 schuf. Es zeigt die schwarz gekleidete Künstlergruppe Nabis, wie sie ein Stillleben von Cézanne umsteht. Gleich daneben hängt eben dieses Stillleben aus dem Jahre 1879/80. Eine hervorragende Konstellation.

Verbeugungen vor Cézanne gestaltete auch Pierre Bonnard, als er zweimal 1904 den Kunsthändler Vollard malte und jeweils ein Gemälde seines Vorbildes an der Wand zitierte. Künstler wie Pablo Picasso, Georges Braque, Henri Matisse oder Paul Gauguin werden nicht kleiner, wenn ihre Werke in die Nähe von Cézannes Bildern gerückt werden und man sehen kann, wie sie einzelne Elemente übernahmen oder weiterentwickelten. Aber auf einmal sieht man die Meister der Moderne mit anderen Augen. Gefördert wird das dadurch, dass auch Bilder und Aspekte präsentiert, die weniger bekannt sind.

HNA18. 9. 2004

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