Der Maler der Versöhnung

Noch Anfang dieser Woche, so berichten seine Freunde, hat der 97jährige Marc Chagall in seinem Atelier im südfranzösischen St. Paul de Vence gearbeitet. Er stand zwar nicht mehr an der Staffelei, das hätten seine Beine nicht mehr erlaubt, doch arbeitete er an Zeichnungen und Aquarellen. Er war bis zuletzt ein unermüdlicher Schöpfer. Der Tod ereilte ihn so sanft, wie Chagall das Leben immer wieder dargestellt hat.

Mit Chagall ist der letzte jener großen europäischen Maler gestorben, die noch vor dem Ersten Weltkrieg den Aufbruch der Formen in der Kunst eingeleitet und über zwei Generationen hinweg das Kunstgeschehen geprägt haben. Chagall gelang dies mit am direktesten über seine Grafikserien und seine öffentlichen Aufträge. Bereits 1920 konnte er für das Jüdische Theater in Moskau Wandbilder
schaffen und Inszenierungen ausstatten. Verschiedene Ballett-Aufführungen blühten in späteren Jahren durch seine Bühnenbilder und Kostüme auf. Vor allem in den letzten drei Jahrzehnten konnte Chagall weithin sichtbar seine Bildbotschaft in den Welt hinaustragen: Er entwarf Glasfenster für eine Synagoge in Jerusalem, für die Kathedrale von Metz, das Haus der Vereinten Nationen in New York, das Frauenmünster in Zürich, die Kathedrale in Reims und für die Stephans-Kirche in Mainz.

Mehr als die zahlreichen Wanddekorationen (Deckengemälde der Pariser Oper) bezeugt die Liste der Glasfenster-Aufträge, in welchem Maße Marc Chagall weltweit als ein Künstler der Versöhnung begriffen wird. Seine glühenden Farben werden geschätzt, seine kindlich-phantastischen Figuren
werden verehrt, aber seine Botschaften von Liebe und Harmonie werden geliebt. Chagall hat der Welt eine neue Bildsprache geschenkt, doch deren naiv-heiterer Ton und deren unverwechselbare Symbolik waren viel zu individuell angelegt, als daß daraus hätte eine Schule entstehen können.

Chagall ist Jude russischer Herkunft, am 7. Juli 1887 in Witebsk geboren; er hat weder das Jüdische noch das Russische in sich und seinen Arbeiten verleugnet. Im Gegenteil, diese Elemente wurden über acht Jahrzehnte bestimmend für sein Werk. Und genau in der Epoche, in der die schlimmste Judenverfolgung Europa erschütterte, wandte sich Chagall den gemeinsamen Wurzeln von Judentum und Christenheit zu und deutete in zahlreichen Bildern die Kreuzigung Jesu in das Leiden der Juden um.

Die Bilder Chagalls mit ihren schwebenden Paaren, ihren Fabelwesen und ihren Dorfszenen sind vielschichtig verschlüsselt. Zu Unrecht sind sie oftmals mit den Werken der Surrealisten verwechselt worden. Die Schwerelosigkeit, von der Chagall träumte, entsprang nicht dem Unbewußten, sondern dem wachen Traum eines Menschen, der sich seine Hoffnungen und Visionen bewahrt hat. Selbst dort, wo er sich mit der bitteren Wirklichkeit auseinandersetzte, blieb Raum für das poetische Spiel.

Als l9jähriger begann er seine künstlerische Ausbildung. Vier Jahre später ermöglichte ihm ein Stipendium die Übersiedlung nach Paris, wo er sehr bald schon den Kontakt und die Freundschaft zu den Avantgardisten fand – Apollinaire, Delaunay und Leger. Chagall geriet hier mit den blutjungen Kunstströmungen in Berührung, die die Kunst, des ganzen Jahrhunderts prägen sollten. Der aus
Russland kommende Maler sog die Anregungen begierig auf, nahm die eine oder andere Idee auf, hielt aber auf Distanz. Längst hatte er seinen eigenen Weg gefunden.

1914 wurde Chagall in seinem Heimatort Witebsk vom Ausbruch des Krieges überrascht. Wie viele andere progressive Künstler verbündete er sich mit dem Geist der Oktoberrevolution, die den Juden die Befreiung verhieß und die von den Künstlern eine neue Bildsprache verlangte. Zeitweise war Chagall Kommissar für die Schönen Künste im Gouvernement Witebsk, außerdem gründete er eine Akademie, an die er Lissitzky und Malewitsch berief.

Doch schon bald sah er für sich in der Sowjetunion keine Zukunft mehr, 1923 kehrte er nach Paris zurück. Im Zweiten Weltkrieg wich er bis in die USA aus, danach ließ er sich in St. Paul de Vence nieder. Hier fand er die Ruhe für sein umfangreiches Alterswerk, zu dem neben Gemälden, Grafiken und Glasbildern auch Keramiken und Mosaiken gehören. 200 seiner Zeichnungen und Gouachen sind, wie berichtet, bis Ostermontag in der Kestner-Gesellschaft Hannover ausgestellt.
HNA 30. 3. 1985

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