Die Lust am Körperlichen

Die Kasseler Gemäldegalerie ist in das umgebaute Schloss Wilhelmshöhe zurückgekehrt. Aus diesem Anlass stellen wir Hauptwerke der Galerie vor.

Das um 1570 entstandene Gemälde nimmt eine antike Sage auf, die einen moralisierenden Kern hat: Die Nymphe Kallisto hat einen Fehltritt begangen – sie hat sich von Jupiter verführen lassen und ist nun schwanger. Bisher haben die anderen Nymphen und die Jagdgöttin Diana dies nicht bemerkt. Doch beim gemeinsamen Bad macht sich Kallisto verdächtig, weil sie verhüllt bleiben will, während sich die anderen ihrer Kleider entledigt haben. Mit dem Finger zeigt Diana auf die Schuldiggewordene, die getroffen und reuig ins Leere blickt. Kallisto wird zur Angeklagten und Ausgestoßenen.

Der Maler Luca Cambiaso (1527-1585) hat das Thema im Sinne der Belehrung (und moralischen Empörung) aufgegriffen. Aber er nutzte das Sagenmotiv, um im Grunde das Gegenteilige zu bewirken – der Lust am Körperlichen nachzugeben. Die Badeszene gab ihm die Gelegenheit, sich in aller Ausführlichkeit dem weiblichen Akt zu widmen und damit jenen sinnlichen Effekt zu erzeugen, der eigentlich gebrandmarkt wird. Cambiaso konnte in seinem Gemälde (das Thema hat er wiederholt aufgegriffen) dank der komplexen Figurenkonstellation den weiblichen Körper in allen seinen Aspekten einfangen und abbilden. Das Bild frönt also erst einmal dem sinnlichen Akt, um dann den Blick auf den Ernst der Geschichte zu lenken.

Faszinierend an dem Gemälde ist das komplexe Geflecht der sieben Frauengestalten, die
durch Blicke und Berührungen miteinander verbunden sind. Lediglich Amor steht abseits, um die Aufmerksamkeit der Betrachter auf das Geschehen zu lenken.

Der rote Vorhang, der Diana und ihre engsten Gefährtinnen umfängt, lässt den Eindruck entstehen, als befinde sich die Gruppe in einem Raum. Diese Wirkung wird durch die linke Bildhälfte, die einen Blick in die offene Landschaft ermöglicht, aufgehoben. Die Szenerie ebenso bewegt wie statuarisch. An der Komposition der Figuren spürt man, dass Cambiaso, der bei seinem Vater gelernt hat, auch das Werk Michelangelos studiert hat.

HNA 2. 7. 2000

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