Im Sommer kehrt die Kasseler Gemäldegalerie in das umgebaute Schloss Wilhelmshöhe zurück. Vor diesem Hintergrund stellen wir Hauptwerke der Galerie vor, die auch jetzt zu sehen sind.
Wodurch das Gemälde vom ersten Moment an fasziniert, ist der warme Grundton seiner schmalen Farbpalette. Wohl stechen das Gelb der Zitronenschale und das helle Braun des Brötchens leuchtend hervor, aber der Maler vermied alle schreienden Farben und harten Kontraste. Sanft gehen die Töne von Weiß über Gelb und Braun ins Grün und Schwarz über. Es gibt die Vermutung, dass der im frühen 17. Jahrhundert gestärkte calvinistische Geist dazu beitrug, dass die niederländischen Maler ihre Bilder strenger, verhaltener und weniger bunt gestalteten.
In den Niederlanden blühte im 17. Jahrhundert die Malerei auf, die sich den unbelebten Dingen (auf einem Tisch etwa) zuwandte und die als Kunst des Stilllebens in Europa ihren Siegeszug antrat. Dabei gab es für die Entwicklung des Stilllebens als eigenständiger Gattung drei unterschiedliche Motive.
Zum einen lockte es seit der Antike immer wieder die Maler, ihre flächigen Gemälde so illusionistisch und plastisch anzulegen, dass die Betrachter versucht sein konnten, die dargestellten Dinge als real anzusehen.
Auch der aus dem westfälischen Burgsteinfurt stammende und in Haarlem wirkende Pieter Claesz (1597/98-1661) beherrschte diese perfektionistische Technik. Man glaubt, den halbvollen Weinpokal greifen zu können. Und in dem zerbrechlichen Glas spiegeln sich die Fenster des Raumes.
Auf der anderen Seite war es eine Lust der Künstler, die schönsten und edelsten Dinge in ihren Kompositionen zu versammeln, um ihre Bilder zu Spiegeln des Wohlstands und des Kunsthandwerks werden zu lassen. Und schließlich gab es das moralisch-didaktische Motiv, dem Betrachter über die Vergegenwärtigung des Schönen an die Vergänglichkeit (und den Tod) zu erinnern: Der Pokal ist halbleer, ein Glas ist umgestoßen, das Brötchen wurde angebissen, die Auster aufgebrochen und die Zitrone zur Hälfte verbraucht.
Das Gemälde dokumentiert eine unterbrochene Mahlzeit. Der Glanz der Dinge ist noch erahnbar, aber die ursprüngliche Schönheit ist verflogen. Nichts bleibt, wie es war, lautet die unübersehbare Botschaft, die für das Barockzeitalter mit seiner Prachtentfaltung so typisch war. Pieter Claesz verhilft dieser Botschaft mit seiner zurückhaltenden Farbgebung und seiner raffinierten, indirekten Lichtführung zur kraftvollen Wirkung.
HNA 26. 3. 2000