Lust am Maskenspiel

Als um 1980 auf der Woge der wilden und heftigen Malerei auch die Bilder des aus Zürich stammenden Luciano Castelli (Jahrgang 1951) in die Ausstellungshäuser gespült wurden, da waren die vielbeachteten künstlerischen Anfänge des in Berlin lebenden Schweizers fast vergessen. In Harald Szeemanns documenta 5 (1972) hatte sich Castelli beispielsweise mit sehr fundamentalen, ins Plastische reichenden Arbeiten vorgestellt, die bereits als sein großes Thema den Hang zum Spielerischen bei der Suche nach sich selbst erkennen ließen.

Noch ersaun1icher aber ist, daß Castelli bislang noch keine Einzelausstellung in der Bundesrepublik hatte. Er geriet offensichtlich etwas in den Windschatten von Salome und Rainer Fetting, mit denen Castelli zahlreiche Gemeinschaftsbilder gemalt hatte. Die Zeit der großen Gemeinschaftsaktionen ist, wie Castelli jetzt betont, vorbei; jeder geht nun seinen eigenen Weg. Berlin ist ihm aber künstlerische Heimat geworden, hier hat er seine erste Leinwand bemalt, hier hat er von den anderen gelernt, und hier gewinnt er Kraft für seine Geschichten.

Der Berliner Castelli wird jetzt vom Kasseler Kunstverein aber als ein Schweizer vorgestellt, der er der Sprache nach geblieben ist. Der Kunstverein präsentiert nämlich den Überblick über Castellis malerische Entwicklung innerhalb der Reihe Szene Schweiz. Die Ausstellung wird am morgigen Sonntag um 11.30 Uhr mit einer Rede der Museumsdirektorin Erika Billeter (Lausanne) eröffnet. Heute abend zeigt um 22 Uhr der Film- laden in Kassel die Castelli-Filme „Geile Tiere“, „Room Full of Mirrors“ und „Venise“.

Die Filme stehen im direkten Zusammenhang mit seiner Malerei. Am intensivsten war die Wechselwirkung zwischen Malerei und Film in dem Projekt „Venise“: Castelli malte, drehte nach diesen Bildern Filmsequenzen, zog aus den Szenen wiederum Malmotive, um dann diese für den Film zu nutzen.

Mehrere Eigenarten von Castellis Schaffensweise werden dabei sichtbar: Sein stark zyklisches Arbeiten, das immer wieder Serien entstehen läßt; sein völliges Eintauchen in einzelne Geschichten, selbstgeschaffene Mythen, die er mit theatralischer Freude ausspielt, um sie so für seine Bilder zu gewinnen; und seine Neigung, die Wirkungen der verschiedenen Bildebenen zu untersuchen. Von daher bevorzugt Castelli auch Ausstellungen, in denen er einen Zyklus vorführen kann.

Die Kasseler Schau bildet insofern eine Ausnahme. Hier werden mehrere Bildgruppen aus 13 Jahren gezeigt. Die Porträts und Figurenbilder von 1973 sind noch sehr realistisch und körperhaft angelegt. Schon hier wird jedoch Castellis Lust am Maskenspiel, an der Entblößung durch die Verkleidung, sichtbar, offenbart sich in den Gesichtern mit den stechenden oder ins Leere blickenden Au-
gen ein Hang zum Dämonischen, aber auch zum Erotischen. In diesen vornehmlich zeichnerisch angelegten Blättern, in denen Castelli noch nach einer eigenen Bildsprache sucht, ist bereits der (ekstatisch) gebogene Körper der Schlüssel zur Malerei.

Castellis 1978 erfolgter Wechsel nach Berlin ließ ihn zur Leinwand, zum großen Format und zu noch stärker erotischen Motiven vordringen. Vor allem aber wandte er sich der expressiven, schnellen und lockeren Malweise zu, die zum Markenzeichen der jungen Malerei wurde. Insbesondere das vierteilige Doppelporträt „Geile Tiere Berlin“ steht für diese Phase. Voller Spannung ist auch die Bildgruppe im mittleren Raum, die in der Auseinandersetzung mit der japanischen Kunst entstand: Die Farben werden auf die Grundtöne Weiß, Schwarz und Rot zurückgeführt, und die Figuren lösen sich im Zeichenhaften auf.

Leider wird Castellis jüngste Phase, in der er zu einem satten, rein malerischen Stil gefunden hat, nur durch eine große Arbeit repräsentiert – das in der Auseinandersetzung mit dem Film entstandene Bild „Venise by Night“, dessen vorherrschende Braun-Gold-Töne die vier Commedia dell’arte-Figuren in eine beruhigte, intensive Farblandschaft einbetten. Die Malerei ist freier, selbstbewußter und fester geworden.

HNA 19. 4. 1986

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