Traumreise, eines der großen Zauberwörter unserer Zeit: Weit weg fahren, wie ein Pascha leben und die Einsamkeit mit der Geselligkeit zugleich genießen. Eine ganze Industrie profitiert von diesen nur begrenzt erfüllbaren Wünschen: die Ernüchterung der Heimkehrenden, die in der Fremde das Erhoffte nicht fanden, wird gerne überspielt. Erst beim Blättern in den Prospekten für die nächste Reise stellt sich vielleicht eine Spur jenes Glücksgefühls ein, das man suchte.
Unternimmt man die besten Reisen nur in der Vorstellung? Führen die wahren Traumreisen eher nach innen als nach außen? Die Arbeiten mancher Dichter, Maler und Zeichner scheinen diesen Weg zu weisen. In der Düsseldorfer Kunsthalle ist jetzt das Lebenswerk eines Mannes zu besichtigen, der nie auf Reisen gegangen ist, der nie die große weite Welt erlebt hat, und der doch die Schönheiten und Abenteuer, die Geschichten und Geschichte dieser Welt aufgespürt hat – auf den Straßen, bei den Trödlern und in den Antiquariaten von New York und Umgebung.
Joseph Cornell, der von 1903 bis 1972 lebte, war Sammler, wie jeder von uns Sammler von irgendetwas ist. Nur sammelte er nicht systematisch und halsstarrig in eine Richtung, sondern trug Dinge zusammen, die jedes für sich keinen großen Wert hatten. Erst die Art, in der er sie dann zusammenfügte – in Bild-Collagen und kleinen Holzkästen (Assemblagen) – ließ ihnen Bedeutung zukommen: Landkarten, Reproduktionen von Bildern und Kunstobjekten, Buchseiten, Schriftfetzen, Döschen, Fläschchen, Tieratrappen und was sonst noch denkbar und möglich ist.
Da gibt es beispielsweise das Objekt Roses des Vents (Windrosen): Auf der Innenseite des Deckels von diesem Holzkasten findet man eine alte deutsche Karte, das Korallenmeer darstellend; in einer herausnehmbaren Platte sind 21 Kompasse eingelassen: darunter findet man bunt bemalte Kästchen, in denen wiederum Landkarten-Ausschnitte zu sehen sind, aber auch Kugeln, Spiralen, Münzen, Muscheln, Papierfetzen, Sternbilddiagramme und Stecknadeln. Es ist, als habe da jemand sein Reise-Set sorgsam gepackt, ohne allerdings die Spuren von alten Abenteuern beseitigt zu haben.
Geschichten lassen sich ausspinnen und ins Tiefsinnige ausdeuten, wenn etwa in einem hell gestrichenen, dreigeteilten Kasten das auf Holz aufgezogene Papierbild eines Kakadus mit 20 Zifferblättern ohne Zeiger und einer nicht mehr funktionierenden Spieluhr umgeben wird. Der Vogel erscheint vital, doch offensichtlich ist das Spiel aus, die Zeit abgelaufen.
Der gleiche Vogel erscheint auch im Kasten Isabelle/ Dien Bien Phu: Hier aber sind Gehäuse und Farbe rissig; die Glasscheibe, die die Assemblage nach außen abschließt, ist gesprungen; auf der Rückwand sind Blutflecken sichtbar.
So konzentriert und poetisch Cornell in seinen Arbeiten Wunschträumen und Sehnsüchten
eine leicht erfaßbare Gestalt geben konnte, so dicht und eindringlich vermochte er blutige politische Ereignisse, wie den Untergang der französischen Fremdenlegionäre bei Dien Bien Phu, in einem Bildobjekt zu fassen. Arbeiten dieser Art lassen auch klar erkennen, daß Cornell kein versponnener Tagträumer war, sondern ein wacher Zeitgenosse, der seine Collagen und Assemblagen nutzte, um die Zeit und die Geschichte auf seine eigene Art zu deuten.
Joseph Cornell hat sich in vielen Jobs herumgeschlagen, auf den Künstlerberuf hatte er sich nie vorbereitet. Die Begegnung mit Werken von Max Ernst und anderen Surrealisten im Jahre 1931 löste bei ihm unmittelbar den Drang zur eigenen künstlerischen Arbeit aus. Ohne Max Ernst und Marcel Duchamp, ohne Dada und Surrealismus ist Cornells Werk in dieser Form nicht denkbar. Doch er schaffte es bald, sich von seinen Vorbildern zu lösen und das Mittel der verfremdenden Collage zu einem Kornpositionsstil zu nutzen, in dem das formale Spiel in eine hintersinnig poetische Erzählhaltung umgemünzt wurde. Eine träumerische Welt entstand daraus, die manchmal heiterer scheint als sie ist.
Die Dadaisten und Surrealisten, so sagte Wieland Schmied bei seiner Einführung in Cornells Werk, brachten Fremdes zusammen, um zu überraschen und schockieren; Cornell jedoch habe Dinge zusammengefügt, die zueinander gehörten und sich nur verloren hatten.
RP 16. 5. 1981