Zwischen den Stilen

Als die Nationalsozialisten die deutschen Museen „reinigten“, da vertrieben sie mit der gesamten Moderne auch die Gemälde von Lovis Corinth. Der „Schlachtermeister des Pinsels‘, wie ihn Alfred Rosenberg schalt, hatte nämlich selbst in seinen Bildern mit heroischen Motiven die Figuren gehäutet
und war mit seinen Farben in ihr Innerstes, in ihr Fleisch und ihre Seelen, eingedrungen.

Genau diese sinnliche Malerei, die auch noch in der stärksten Auflösung und spontansten Maltechnik das Inhaltliche sucht, läßt Corinth heute so aktuell und wegweisend erscheinen. Nicht umsonst wurde Lovis Corinth (1858 – 1925) frühzeitig als eine der Leitfiguren für die Neue Malerei zitiert. Und so
verwundert es auch nicht, daß einer der Anwälte dieser Neuen Malerei, Zdenek Felix, im Essener Museum Folkwang eine große Corinth-Ausstellung arrangierte.

In dem hervorragenden Katalogbuch (DuMont Verlag, Köln, 222 S., 91 Farbabbildungen) degradiert
Felix nun Corinth allerdings nicht zum bloßen Vorläufer, sondern versucht, die ganz eigenständige Position dieses Künstlers zwischen den Stilen zu umreißen. Dabei kann er sich auf die zentralen Beiträge Corinths zum Menschenbild in diesem Jahrhundert berufen; daher stellt Felix ihn gleichbedeutend neben Max Beckmann.

Die Essener Ausstellung ist zwar repräsentativ, versteht sich aber nicht als umfassende Werkschau. So entschied man sich glücklicherweise auch nicht für eine chronologische Ordnung, sondern für thematische Gruppen: Literarische und mythologische Themen, Stillleben, Bildnisse und Selbstbildnisse Landschaften und Walchenseebilder‚ Aktbilder und Genrebilder. Auf diese Weise wird verdeutlicht, dass Corinth durch seine Wandlungen hindurch einigen Themen zeitlebens verhaftet blieb.

Zu den populärsten Motiven zählen zweifellos seine Blumen- und Kinderbilder sowie seine Walchenseelandschaften. 1919 erwarb der damals in Berlin lebende Corinth ein Grundstück am Walchensee, an dem zahlreiche herrliche Landschaftsbilder entstanden. Zehn Walchenseebilder sind in der Essener Ausstellung vereint. Sie dokumentieren, wie der Maler mit dem Wechsel der Jahreszeiten lebte und für jede Zeit eine eigene Perspektive und einen eigenen Malstil fand. Eines der schönsten Walchenseebilder vermißt man allerdings: das Gemälde „Walchensee, Landschaft mit Kuh“, das vor sechs Jahren für die Neue Galerie in Kassel angekauft worden ist. Es wurde aus konservatorischen Gründen nicht auf die Reise geschickt, und auch deshalb, weil es sich um ein Hauptwerk der Kasseler Sammlung handelt.

Den Mittelpunkt der Schau bilden die Porträts und Selbstbildnisse. Welten liegen zwischen dem heiter-bunten „Porträt Frau Halbe mit Strohhut“ (1898), in dem aus hellen intensiven Weiß-, Gelb-, Blau- und Rottönen ein sommerlich-optimistischer Kopf gezaubert ist, und dem „Porträt Georg Brandes“ (1925), in dem sich die Halbfigur eines Mannes in einem Gewirr fahriger dunkler Pinselstriche auflöst. In den Jahren dazwischen hat sich Corinth nahezu alle Möglichkeiten der Bildniskunst erschlossen und den Pinsel zum Werkzeug seiner Stimmungen und seelischen Einsichten werden lassen.

Corinth war fasziniert vom menschlichen Körper. Seine frühen mythologischen Bilder bezeugen das ebenso wie die zahlreichen Aktdarstellungen. Doch je länger er sich dieser Faszination hingab, desto durchsichtiger wurden die diesseitigen Formen.

HNA 28. 12. 1985

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