Der hessische Landgraf Wilhelm II. starb im Juli des Jahres 1509. Wenige Monate vorher bestellte er bei dem sächsischen Hofmaler Lucas Cranach (der Ältere) einen kleinen Altar für seine Privatandacht, einen sogenannten Reisealtar. Es ist zu vermuten, daß Wilhelm II. schon von der Krankheit gezeichnet war, als er den Auftrag gab. Und es ist ebenfalls anzunehmen, daß auch das Bildprogramm für den Altar – entweder in der Hoffnung auf eine Genesung oder im Bewußtsein des Todes – vom Auftraggeber gewünscht wurde: die Auferstehung Christi.
Cranach fertigte ein Reisealtärchen, das 38 Zentimeter hoch und dessen Mitteltafel 26 Zentimeter breit ist. Der Tafel mit der zentralen Auferstehungsszene fügte er zwei zehn Zentimeter breite Flügel an, auf denen die heilige Barbara als Fürbitterin einer guten Sterbestunde und die heilige Katharina als Patronin der Kranken zu sehen sind.
Die Außenseiten der Flügel tragen die Wappen des Landgrafen und seiner Frau Anna von Mecklenburg. 1905 gelangte der Reisealtar als Geschenk von Ludwig Mond in die Kasseler Gemäldegalerie, wo er heute (im Schloß Wilhelmshöhe) innerhalb der Abteilung der altdeutschen Malerei einen Ehrenplatz einnimmt.
In ihrem Band über die altdeutsche Malerei in den Staatlichen Kunstsammlungen Kassel (1982) hat Anja Schneckenburger-Broschek darauf aufmerksam gemacht, daß Cranach mit dieser Arbeit eine fast lyrische Darstellung der dramatischen Auferstehungsszenerie und damit ein Gegenbild zu Grünewald und Altdorfer geschaffen habe.
Der Auferstandene steht fest und freundlich zwischen den noch ruhenden Soldaten. Seine Zuversicht, sein heller Körper und sein edel-rotes Gewand überstrahlen ebenso die Szenerie wie im Hintergrund die aufgehende Sonne. In der Hand hält Christus einen durchsichtigen, gläsernen Stab, an dem die Kreuzfahne weht. Das Grab (im linken Hintergrund) ist noch von den Siegeln verschlossen. Der durchsichtige Stab deutet an, daß der Auferstandene neue körperliche Qualität gewonnen hat, die es ihm erlaubt, die Dinge zu durchdringen.
Die beiden flankierenden Heiligen in ihren kostbaren Gewändern festigen das Bild der Ruhe. Beigaben deuten auf ihre Schicksale hin: Barbara hält einen Turm in ihrer Hand als ein Zeichen für die Gefangenschaft, die sie durch ihren Vater erleiden mußte; Kelch und Hostie verweisen auf ihre Bekehrung. Katharina erlitt große Folterqualen, bevor sie enthauptet wurde; Rad und Schwert erinnern daran.
Im Gegensatz zu manchen anderen Arbeiten Cranachs ist dieser Reisealtar recht genau zu datieren: Der Tod des Auftraggebers Wilhelm II. im Juli 1509 zieht eine Grenzlinie, die andere wird durch eine Reise Cranachs in die Niederlande, von der er im Spatherbst 1508 zurückkehrte, gebildet. Das Indiz dafür, daß die Reise in die Niederlande vor der Arbeit an dem Altar erfolgte, ist nach übereinstimmender Meinung der Kunsthistoriker die Haube, die die heilige Barbara trägt – sie ist nach damals neuester flämischer Mode gestaltet.
Anja Schneckenburger-Broschek glaubt, daß die intensive Begegnung mit der italienischen Kunst und das Wirken von Jacopo de Barbari, der von 1503 bis 1505 ebenfalls am Hof in Wittenberg arbeitete, Cranachs Wandel von der genialischen Sturm- und Drang-Phase zu einem geglätteten und ausgewogenen Malstil gefördert hätten.
Der Mitverfasser des Werkverzeichnisses der Gemälde von Cranach, Max J. Friedländer (Die Gemälde von Lucas Cranach, Birkhäuser Verlag, Basel-Stuttgart; 1979) beurteilt diesen Stilwandel sehr viel radikaler: Wäre Cranach 1505 gestorben, so würde er im Gedächtnis leben wie geladen mit Explosionsstoff. Er ist aber erst 1553 gestorben, und wir beobachten statt der Explosion ein Ausrinnen. Aus Kenntnis des gesamten Werkes wird der Kunstfreund mit einiger Skepsis gegen den genialischen Anbruch erfüllt. Der wache Cranach hält nicht, was der träumende versprochen hat. Seine Wittenberger Kunst gleicht einer glatten Kastanie, die aus stachlig grüner Schale gesprungen ist. Phlegmatisch verständige und saubere Darstellung tritt an die Stelle leidenschaftlich tönenden Naturlauts.
Um zu verdeutlichen, welchen Verlust Friedländer beklagt, haben wir unserem Titelbild-Motiv, dem Reisealtar, ein um 1500 entstandenes Gemälde gegenübergestellt, in dem Cranach die Kreuzigung in expressionistischer Manier behandelt. Die Kreuze selbst sind körperhafte Baumstämme, über die sich die Blutströme der Gekreuzigten ergießen. Während die beiden anderen zum Tode Verurteilten wohlgenährte Figuren sind, ist der Christus-Körper mager, knochig und von Wunden und Narben übersät. Als Cranach diese dramatische Szene malte, war er etwa 28 Jahre alt. Der aus dem oberfränkischen Kronach stammende Sohn eines Malers muß um diese Zeit von Obertranken aus nach Wien gekommen sein. Dort wirkte er so einflußreich, daß er als Begründer der Donauschule in der Malerei gilt.
1505 rief Kurfürst Friedrich der Weise den Maler Lucas, der sich nach seinem Heimatort Cranach nannte, als Hofmaler nach Wittenberg. Damit begann eine erstaunliche künstlerische und bürgerliche Karriere. Schon bald erhielt Cranach so viele Aufträge, daß seine Werkstatt zu einer regelrechten Fabrik wurde, in der ihm auch seine beiden Söhne Hans und Lucas zur Seite standen. Tafelbilder aus der biblischen Geschichte, gemalt im Sinne des reformatorischen Programms, Porträts der Reformatoren (mit Luther war Cranach gut befreundet) und Bildnisse der Fürsten und anderer Personen verließen dutzendweise die Werkstatt.
Gleichzeitig erhielt Cranach Privilegien, wurde Mitglied des Rates,
wurde Kämmerer und schließlich Bürgermeister von Wittenberg. Den Kurfürsten blieb der Maler
zeitlebens treu, so daß er Johann Friedrich auch in die Gefangenschaft nach Augsburg und Innsbruck folgte. 1553 starb Cranach in Weimar.
Der von Friedländer so bedauerte Stilwandel war offenbar gerade die Voraussetzung für diese Karriere. So schreibt Anja Schneckenburger-Broschek, die Tendenz zum übersichtlichen Bildaufbau und die Glättung der Konturen hätten es erst ermöglicht, daß die Motive durch die Werkstatt wiederholt werden konnten. Also doch nicht nur Läuterung, sondern auch Verlust.
HNA 30. 3. 1986