Glanzvolle Zeiten

Das Ritual hat sich eingeschliffen: Alle fünf Jahre rüstet sich die Stadt für ihr Großereignis. Bereits zum Jahreswechsel tippen die ersten entfernten Freunde an, wie es denn um die documenta stehe und ob man im Sommer auch wirklich da sei. Na klar, die Gäste gehören dazu. Sie machen die Ausstellung erst zum Ereignis.

Selbst für diejenigen ist die Ausstellung ein Ereignis, die der heutigen Kunst fern stehen. Schließlich weiß man, daß sich Kassel im documenta-Jahr spürbar verändert. Dabei darf man nicht übersehen, daß sich die Stadt bereits nachhaltig verändert hat: Das Museum Fridericianum ist außerhalb der documenten nicht mehr verwaist, es gibt mittlerweile eine reiche Galerien-Szene und neben dem Staatstheater geht die documenta-Halle ihrer Vollendung entgegen. Die Kunst der Gegenwart hat in Kassel nicht mehr nur einen Fuß in der Tür, sondern ein sicheres Standbein.

Arnold Bode, der documenta-Vater, der immer 50 Prozent seiner Phantasie und Energie dafür einsetzen mußte, um die große Kunstschau auf den Weg zu bringen, müßte neidisch werden, könnte er sehen, welche glanzvollen Zeiten für die documenta angebrochen sind: das Fridericianum als festes Domizil; eine eigene Halle am Auehang; ein stabiler und allmählich wachsender Etat; eine Geschäftsführung, die auch zwischen den documenten professionell arbeitet; und sieben Monate vor Ausstellungsstart schon ein funktionierender Kartenvorverkauf…

Alles dank der Initialzündung Bodes. Wäre es da nicht sinnvoll, der documenta-Halle seinen Namen zu geben – gerade weil er und seine Mitstreiter ständig improvisieren und sich ihren Raum erkämpfen mußten?

Ja, die Zeiten haben sich gewandelt. Die documenta ist neben der Biennale in Venedig zur Institution geworden, zum Orientierungspunkt in der internationalen Kunstlandschaft. Eine solche Verfestigung hat ihren Preis. Denn der Etat steht nur dann auf sicheren Beinen, wenn (wie 1987) knapp 500 000 Besucher durch die Ausstellungsräume strömen. Wo aber Massen an labilen Kunstinstallationen vorbeiziehen, ist für das intime, das sensible Kunsterlebnis nur noch wenig Platz. Im Publikums-Erfolg kann das Scheitern angelegt sein.

Die documenta ist organisatorisch abgesichert und steht nicht mehr zur Disposition. Ein beruhigendes Gefühl? Nur bedingt. Denn ganz leicht kann die internationale Kunstschau zur Show verkommen, wenn nur das Management funktioniert und bloß Kunstunterhaltung produziert wird. Die Nagel- probe steht noch aus. Da hat sich gegenüber 1955 nichts geändert. Erst wenn die am
13. Juni öffnende Ausstellung herausfordert, Diskussionen auslöst und auf die Kunstszene zurückstrahlt, hat sie tatsächlich ihren Platz gefestigt. Jan Hoet muß wissen, daß er erst dann gewonnen hat. Am Ende zählt allein der Inhalt. Dann sind weder Besucher- noch Umsatzzahlen wichtig, sondern nur die Gewißheit, daß man die documenta braucht, um die Kunst von heute zu erleben.

HNA November 1991

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