Annäherung an Kino und Malerei

Der kanadische Künstler Jeff Wall (Jahrgang 1946) sieht sich und seine Arbeit im Spannungsfeld von Fotografie, Malerei und Kino. Der documenta-Künstler sprach in Kassel über sein Werk.

Die documenta X überfordere ihre Besucher dadurch, daß sie an zu vielen Wänden kleine Schwarz-Weiß- Fotos präsentiere. Dieser Vorwurf tauchte gleich mehrfach in Kritiken auf. Nun ist in der Auseinandersetzung um Kunst weder der Verweis auf das Medium Fotografie noch auf die Bildgröße ein tragfähiges Argument. Gleichwohl erhielten die Kritiker jetzt indirekt Schützenhilfe von documenta-Künstler Jeff Wall, der mit großformatigen Leuchtkastenbilder im Museum Fridericianum und in der Unterführung am Hauptbahnhof vertreten ist. Denn seiner Ansicht nach litt die Kunstfotografie früher darunter, daß die Fotografen immer einen Bildband vor Augen gehabt und deshalb kleine Formate produziert hätten.

Jeff Wall hält es für wesentlich, daß ein in der Ausstellung zur Diskussion gestelltes Foto physische Kraft bekommt und im Raum von mehreren Personen gleichzeitig erfahren werden kann. Gleichzeitig will er die Präsenz der Malerei und des Kinobildes für seine Fotografie gewinnen. Also plädierte
er dafür, Fotos in Gemäldegröße zu zeigen. Er selbst verarbeitet seine Aufnahmen zu Großdias, die er in Leuchtkästen zeigt – in jüngster Zeit vermehrt in Schwarz-Weiß.

Zu seiner eigentlichen Arbeitstechnik sagte Wall in seinem Vortrag im Rahmen der Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ überraschend wenig. Nur auf eine Nachfrage erläuterte er, daß er sich auch der digitalen Montage bediene, die allerdings für den Betrachter nicht erkennbar ist. Doch genau diese Technik berührt ein Grundproblem der künstlerischen Fotografie allgemein und speziell von Walls Werk. Denn hier geht es um das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion.

Jeff Wall, der die Fotografie eindeutig in der Nachfolge der Malerei sieht, bedient sich in seinen Arbeiten der Stilmittel der Dokumentation. Die Bilder erscheinen wie Schnappschüsse, also wie unmittelbare Abbilder der Wirklichkeit. In Wahrheit sind die Motive von ihm arrangiert und nachbearbeitet – und zwar so, dass sie zu idealtypischen Schnappschüssen werden.

Wall hat damit, wie er auch in seinem kleinen Abriß zur Fotografie-Geschichte erklärte, die traditionell dokumentarisch angelegte Lichtbildkunst überwunden, um auf der Grundlage von Konzept und Aktion zu einer neuen Wirklichkeitsdarstellung zu gelangen – mit Hilfe von Distanz und Erinnerung.

HNA 15. 8. 1997

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