Der österreichische Pavillon in der Biennale von Venedig bietet in diesem Jahr Ungewöhnliches. Es sind weder Bilder noch Objekte zu sehen, auch keine Installation: Die beiden Säle beiderseits des Eingangs waren zur Eröffnung vollgestapelt mit dicken Büchern, die Gerhard Rühm und die Wiener Gruppe ehren. An den Wänden konnten die Besucher die Aufforderung lesen, ein Buch mitzunehmen. Viele Besucher nahmen die Aufforderung an, andere ließen sich vom Gewicht der Bände abschrecken.
Nahezu kein anderer als Peter Weibel konnte auf eine solche ebenso abwegige wie faszinierende Idee kommen: Das sichtbare Werk ist das Buch, so lautet die Botschaft; wer es würdigen will, nimmt es mit. Diejenigen, die zu spät kommen, müssen sehen, wo sie mit ihrem Informationsbedürfnis bleiben.
Der 1945 in Odessa geborene Peter Weibel ist auf keinen einfachen Nenner zu bringen. Er ist der erste Wissenschaftler, der nachhaltig über die Möglichkeiten und Konsequenzen der neuen Medien nachdachte. Er ist aber auch Künstler, der immer wieder intuitiv neue Wege erschließt. Und er ist schließlich ein Kunstvermittler, der außergewöhnliche Ausstellungen ermöglicht.
Gewiß ist es kein Zufall, daß Österreich in den letzten Jahren die ungewöhnlichsten
Künstlerpersönlichkeiten hervorgebracht hat: Arnulf Rainer, Franz West, Hans Hollein und Peter Weibel. Dabei ist Weibel jemand, der seit rund 20 Jahren auch im Hochschulbereich als Lehrer wirkt – auch zweimal an der Gesamthochschule in Kassel. Seit 1993 ist er künstlerischer Leiter der Neuen Galerie am Landesmuseum in Graz und Kommissar für den österreichischen Biennale-Pavillon.
Heute abend wird Weibel in der documenta-Halle gemeinsam mit Otto E. Rössler auftreten. Rössler, 1940 in Berlin geboren, ist ursprünglich ein Mediziner, der sich systematisch den Bereich der Physik erschloß. Weibel wie Rössler verbindet, daß sie über das Chaos nachgedacht haben. Gemeinsam wollen sie heute über neue Aspekte der Physik sprechen.
HNA 19. 8. 1997