In der documenta-Reihe 100 Tage – 100 Gäste stand die Zukunft der Zeitungen zur Diskussion. Am Ende überwog der Optimismus: Die neuen Medien seien kein Ersatz.
Das Szenario, das der Kölner Medienwissenschaftler Prof. Dietrich Leder entwarf, war düster: Den Wettlauf um die Aktualität hätten die Tageszeitungen schon längst verloren, die Welt könnten sie auch nicht mehr komplett abbilden, und nun wachse in den Großstädten auch lokale Konkurrenz heran. Junge Leute, so ein Fazit, die sich entscheiden müßten, ob sie monatlich für ein Pay-TV-Programm oder ein Zeitungs-Abonnement zahlen sollten, würden sich kaum für das antiquierte Medium entscheiden. Claudius Seidl von der Süddeutschen Zeitung setzte noch eins drauf: Die Tageszeitung sei kein Kulturgut, das man verteidigen müsse. Man solle sie nicht unter Denkmalschutz stellen.
Damit war genug Zündstoff für die folgende Diskussion geliefert, zu der die documenta in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Rundschau in die Kasseler documenta-Halle eingeladen hatte. Vehement widersprach der Publizist Jürgen Busche, für den die Entwicklung der Tageszeitung untrennbar mit der Ausbildung demokratischer Strukturen verbunden ist. Entschieden wandte er sich auch gegen die pessimistische Einschätzung, es würde immer weniger gelesen. Das Gegenteil sei richtig. Das Bild habe sich nur dadurch verändert, daß alle über mehr freie Zeit verfügten und heute jedermann Zugang zu den Informationsmedien habe.
Busche glaubt an die Zukunft der Zeitung, weil es immer genug Menschen geben werde, die Lust am Denken und Lesen hätten. Diese Lust müsse von der Tageszeitung befriedigt werden. Man könne das Medium nicht durch einen Häppchen-Journalismus retten, der die neuen Medien imitiere. Vielmehr gehe es darum, das geschriebene Wort zu pflegen und zur gedanklichen Auseinandersetzung einzuladen.
Die von den Rundschau-Redakteuren Peter Iden und Peter Koerte geleitete Diskussion ließ sich nicht näher darauf ein, ob die elektronischen Medien nicht auch den Verteilungs- und Zustellmechanismus der Zeitungen verändern könnten. Der Blick verengte sich schnell auf das gedruckte Medium. Und da war sich das Podium weitgehend mit den Zuhörern in der vollbesetzten documenta-Halle einig: das wird gebraucht – auch in seiner sinnlichen Verfügbarkeit (um nach der Lektüre das Papier z. B. in die Schuhe zu stopfen).
Für Roderich Reifenrath, Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, haben sowohl die überregionalen wie die Regional- und Boulevard-Zeitungen Zukunft. In der Frage, wie intensiv die regionalen Blätter ihren Regionalbezug verstärken und dabei möglicherweise auf die Politik verzichten sollten, gingen die Meinungen auseinander. Skeptisch wurde auch die Tendenz beurteilt, einseitig den Servicecharakter der Zeitungen zu stärken.
Die Angst, es würde zuviel zum Lesen angeboten, so war die Schlußmeinung, brauche man nicht zu haben. Es werde von keinem erwartet, daß er alles lese.
HNA 31. 7. 1997