100 Tage – 100 Gäste: Lois Weinberger

Menschen aus fernen, armen Ländern kommen nach Europa und suchen hier Zuflucht. Wenn die Flüchtlinge in großer Zahl einreisen, wächst bei den heimischen Menschen die Angst, ihnen würde durch die Fremden die Lebensgrundlage entzogen. Ein immer wiederkehrender Prozeß.

Der österreichische Künstler Lois Weinberger (Jahrgang 1947) hat für diese Mechanismen ein zugespitztes Modell geschaffen: Auf dem stillgelegten Gleiskörper unmittelbar vor dem documenta-Ausstellungsgebäude im Kulturbahnhof hat er Pflanzen aus fernen Ländern angesiedelt – Unkraut, wie wir es nennen. Diese Pflanzen wachsen schnell, breiten sich aus und sollen die heimische Flora überwuchern, die sich überall dort auf industriellem Gelände ansiedelt, das von Menschen aufgegeben worden ist. Ein wirklicher Verdrängungsprozeß findet statt.

Das anfangs belächelte Unkrautfeld ist mittlerweile zu einem Kultobjekt geworden. Die Zeitschrift „Kunstforum“ machte ein Foto davon zum Titelbild ihrer documenta-Dokumentation. Weinberger ist jedoch die heimische Pflanzenwelt nicht gleichgültig: Am documenta-Parcours installierte er zwei Wegwarten – Metallkästen, in denen Samen der hier angestammten Pflanzen verwahrt wird. Den Schlüssel für die Kästen kann man sich im documenta-Archiv besorgen.

Doch es wäre falsch, Weinbergers künstlerische Arbeit auf die eines Botanikers zu reduzieren. Man muß ihn als einen Untergrundkämpfer ansehen, dem die große Geste nichts gilt. Er lenkt den Blick auf das, was vernichtet und übersehen wird – auf das Unkraut wie auf die unwohnlichen Randzonen der Städte, auf die Unkultur der Systeme und die stille Poesie. Seine Zelle im Kulturbahnhof wirkt da wie ein Brennspiegel: Beiläufiges und Unscheinbares – Texte auf der Wand, Fotos, Zeichnungen und Alltagsgegenstände – fügen sich zu einem Zeitbild zusammen. Das zu besichtigende Chaos haben wir selbst geschaffen.

HNA 23. 8. 1997

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