Traum und Wahrheit

So viel Kunst war noch nie. Mancher mag das mit Blick auf die documenta X nicht behaupten, weil er das Vertraute vermißt und weil ausgerechnet der zentrale Friedrichsplatz weitgehend ein leerer Denkraum geblieben ist. Und doch gab es zur documenta-Zeit noch nie so viel Kunst in Kassel: Im Laufe der Jahre ist die große Ausstellung zu einem immer stärker wirkenden Magneten für anderes geworden. Um sie herum blüht ein üppiger Kranz von Veranstaltungen, die alle ein wenig documenta-Glanz abstauben wollen.

Wo so viel Aktion und Leben ist, verklärt sich leicht der Blick. Dann blühen Träume. Etwa der von dem neuen Ausstellungsraum im Kulturbahnhof. In der Tat hat dort die documenta eine phantastische Entdeckung gemacht, und die documenta-Architekten haben das Aschenputtel endgültig in eine Schönheit verwandelt. Aber was soll mit den Räumen künftig geschehen? Könnte man dort Museumssammlungen zeigen oder Ausstellungen veranstalten? An Phantasien mangelt es nicht.

Doch solche Träume führen in die Irre. Abgesehen davon, daß das Nutzungs- und Entscheidungsrecht bei der Bahn liegt – wer sollte und wer könnte denn die Miete, den Strom und die Bewachung für die Nutzung dieser Räume finanzieren? Die Tatsache, daß Kassel für 100 Tage der Nabel der Kunstwelt ist, läßt leichtfertig vergessen, daß wir den materiellen Boden unter den Füßen verloren haben. Das alte Polizeipräsidium als Museumsdepot oder als Haus für die Volkskundeabteilung bzw. das Tapetenmuseum? Herrliche Ideen, aber nur Seifenblasen. Denn wie sollte ernsthaft über die Ausweitung der Museumsflächen diskutiert werden, wenn man weiß, daß die Geldmittel nicht einmal ausreichen, die vorhandenen Räume ständig zu öffnen?

Gewiß wäre es falsch, vor kulturellen Notstand zu sprechen. Den haben wir wirklich noch nicht. Wenn man aber weiß, daß angesichts der Haushaltslage die öffentliche Hand nicht in der Lage ist, die simpelsten Zusagen einzuhalten, darf man sich einfach nicht neue kostentreibende Vorschläge ausdenken: Spät und mühsan hatten sich Land und Stadt Anfang der 80er Jahre darauf verständigt, Kunstwerke aus jeder documenta für die Neue Galerie anzukaufen. Dreimal ging das gut, doch jetzt hängt die Zusage in den Sternen. Das Land hat die Finanzierungszusage in Höhe von 200 000 Mark zwar an die Kulturstiftung übertragen, doch immerhin ist sie gegeben. Das Geld allerdings fließt nur, wenn die Stadt sich in gleicher Weise engagiert. Aber da hapert es. Wo soll es auch herkommen, wenn nicht Vorsorge getroffen wurde?

Kassel zur documenta-Zeit blendet. Man soll dieses zu sätzliche Licht genießen, aber sich dadurch nicht täuschen lassen. Sonst wird es danach finster.

HNA 30. 8. 1997

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