Mit dem Vortrag des nigerianischen Nobelpreisträgers Wole Soyinka gingen die documenta X und deren erfolgreiche Veranstaltungsreihe 100 Tage – 100 Gäste zu Ende.
100 Tage lang versammelten sich in der Kasseler documenta-Halle jeden Abend zwischen 400 und 500 Menschen, um anzuhören, was Künstler, Philosophen, Architekten, Regisseure, Psychoanalytiker und Autoren zu den Problemen der Welt und der Kunst zu sagen haben. Warum funktionierte dort das, was normalerweise in Universitäten und Volkshochschulen nicht gelingt? Weil die Halle mehr als nur der Ort für das Gespräch war, weil sie zu einem sinnlich erfahrbaren Raum, zur begehbaren Skulptur geworden war. Und weil sich für den Ablauf der Abende ein festes Ritual entwickelt hatte, das damit begann, daß kurz vor 19 Uhr Catherine David und Gefolge die Halle betraten. Kein Wunder, daß gelegentlich von einer Gemeinde die Rede war, die sich zur Andacht versammeln würde.
So traf sich gut, daß mit dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Wole Soyinka am letzten Abend ein Redner zu Gast war, der das hohe Lied des Rituals sang. Rituale, so sagte er, können helfen, die Gesellschaft voran zu bringen, mit dem Unfaßbaren fertig zu werden, aber auch gegen die Macht anzutreten.
Soyinka, der vielfach die Militärmachthaber seines Landes gegeißelt hat und der seit 1994 im amerikanischen Exil lebt, entwickelte ein listiges Rezept zur Befriedigung der Machtgelüste: Da die Tyrannen nur eines wollten, nämlich ein Staatsbegräbnis, sollte man ihnen dieses gewähren – mit jährlichem Probelauf. Dann könnten sie auch auf die Herrschaft verzichten.
Aber auch in anderer Hinsicht war Soyinkas poetischer Vortrag beispielhaft für die ganze Veranstaltungsreihe: Er verknüpfte auf leichte, fast beiläufige Weise Gedanken zur
Kultur und Literatur mit entschiedenen Anmerkungen zur Gesellschaft und Politik. So ließ er sich in brillanter Weise ebenso über die Tränen aus, die eimerweise zum Tode von Lady Di vergossen worden seien, wie zu den Ursprüngen der literarischen Tragödie in seinem Lande.
Vorträge wie dieser können nur Anstöße geben. Den westeuropäisch geprägten Zuhörern wurde bewußt, wie wenig und schlecht sie über die Kulturen und Verhältnisse des afrikanischen Kontinents informiert sind. Was weiß man schon von den mit Fehlern behafteten Göttern und Ritualen in Soyinkas Heimat und jenen Lebensregeln für die Gemeinschaft, die nach seiner Meinung denen europäischer Demokratien ebenbürtig sind?
Die weitgehende Unwissenheit ließ es auch nicht zu, die Angriffe zu bewerten, die ein nigerianischer Landsmann gegen Soyinka vortrug, als er ihm vorwarf, dem Militärregime gedient zu haben, als er Beauftragter für die Verkehrssicherheit in seinem Lande gewesen sei. Die Auseinandersetzung mit diesen und ähnlichen Fragen müßte, besser gesagt: muß weitergehen.
HNA 30. 9. 1997