In dieser Woche startet das Filmprogramm der documenta X. Um die Wichtigkeit dieser Reihe zu unterstreichen und die Produktionen auch inhaltlich zu unterfüttern, konzentriert sich in dieser Woche auch die Veranstaltungsserie 100 Tage – 100 Gäste in der documenta-Halle auf das Medium Film.
Heute Abend wird der Auftakt mit Aleksandr Sokurov gemacht, der erst um 19 Uhr in der documenta-Halle spricht und von dem dann um 22 Uhr im Bali der Film Mutter und Sohn gezeigt wird. Sokurov gilt heute als einer der wichtigsten russischen Filmemacher. Der 1951 in Irtusk geborene Regisseur hat bisher rund 30 Dokumentar- und Spielfilme gedreht. Mehrfach hat er internationale Preise gewonnen – zuletzt den Großen Preis bei den Kurzfilmtagen Oberhausen im Jahre 1996 für seinen Film Vostotschnaja Elegija.
Seine erste öffentliche Anerkennung allerdings erhielt er erst spät, denn rund zehn Jahre lang (bis 1986) konnte Sokurov seine Filme nur für sein Privatarchiv drehen. Er war in der Sowjetunion praktisch mit Berufsverbot belegt worden. Aleksandr Sokurov hatte im Fernstudium Geschichte studiert und beim Lokalfernsehen gearbeitet, bevor er sich entschloß, an der Moskauer Filmhochschule zu studieren. Sein bis 1979 dauerndes Regiestudium führte aber bereits 1978 zum Konflikt, als er einen abendfüllenden Film als Diplomarbeit einreichte, statt sich, wie vorgeschrieben, auf einen 20-Minuten-Film zu beschränken. Dem Film wurde die Abnahme verweigert.
Immer wieder holte sich Sokurov Abfuhren von den Genehmigungsbehörden ein, so daß sich Andrej Tarkowskij aus seinem Exil für ihn einsetzte und einen Hilfsfond zu seinen Gunsten gründete.
Sowie Sokurov aber ab 1986 seine Filme zeigen durfte, konnte er Erfolge verzeichnen. So war er mehrmals auf der Berlinale vertreten – 1995 (allerdings außer Konkurrenz) mit dem Spielfilm Verborgene Seiten und 1996 im Forum mit dem Streifen Die Stimmen der Seelen.
Der für die documenta produzierte Film Mutter und Sohn ist als einziger schon vorher uraufgeführt worden – im Frühjahr auf der Berlinale. Der Film erzählt die Geschichte von einer sterbenden Frau und deren Sohn, der sich um sie kümmert. Beide scheinen völlig allein in der Welt zu leben.
HNA 23. 6. 1997