Zweite kritische Annäherung an die documenta X: Was hat sie mit der heutigen Kunst zu tun? Und:
Wie sinnlich ist sie?
Es gehört fast zum Ritual, daß jede documenta erst einmal kräftige Kritik einheimst, bevor dann eine differenziertere Betrachtung möglich wird. Aber an der documenta X werden sich vermutlich grundsätzlich die Geister scheiden. Zwei Gründe gibt es dafür: Zum einen entzieht sich diese documenta relativ stark dem Kunstmarkt und versagt die gewohnten Bilder und Objekte. Zum anderen verzichtet sie auf die vertrauten Namen (die wichtigsten, besten… Künstler) und den Anspruch, die heutige Kunst universell zu spiegeln.
Wer also erfahren will, welche Künstler und Tendenzen heute tonangebend im Kunstbetrieb sind, kommt in Kassel nicht auf seine Kosten. Das hat zum einen Teil vor fünf Jahren die documenta 9 geleistet und das ist auch in anderen Großausstellungen wie der diesjährigen Biennale von Venedig zu erfahren. Zwar sind, um zwei Beispiele herauszugreifen, Michelangelo Pistoletto und Gerhard Richter zwei Leitfiguren der aktuellen Kunst, doch auf der documenta X werden sie mit älteren Werken vorgestellt bzw. mit Werkstattarbeiten. In einigen Fällen (wie bei dem Fotografen Walker Evans) griff Catherine David sogar auf Stücke aus den 40er Jahren zurück.
Sie tat das gewiß nicht, weil sie in der aktuellen Kunst nichts Vorzeigbares entdeckt hätte. Vielmehr beschritt sie diesen Weg, um zielgenauer zur Sprache der Kunst von heute hinführen zu können: Hinter dieser Ausstellung steht ein umfassendes didaktisches Konzept, das die Möglichkeiten der Bildsprache in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts aufzeigen will. Das, was die documenta 5 und 6 im Sinn hatten, aber dann doch nicht umsetzen konnten (weil sie in Abteilungen mit sehr spektakulären Einzelbeiträgen zerfielen), gelingt weitgehend dieser Ausstellung.
Das Motto von 1972, das Besser sehen durch documenta 5 lautete, kann auf diese Schau übertragen werden. Dabei mißrät die documenta X keineswegs zur didaktischen Veranstaltung: Die Besucher können reichlich sinnliche Erfahrungen sammeln und können ihre eigenen Erlebnis- und
Verständniswege suchen.
Der Sinn von Ausstellungen besteht ja darin, daß man durch sie mit konzentrierter Aufmerksamkeit geht. Die ist in diesem Fall besonders gefragt. Um etwa zu erkennen, daß die ähnlich scheinenden Fotos von Ed van der Elsken und Walker Evans zwei gegensätzliche Bildstrategien repräsentieren (van der Elsken inszenierte seine Aufnahmen, Evans fotografierte heimlich und unkontrolliert Menschen in der U-Bahn), muß man die Bilder eingehend studieren und eventuell den Kurzführer zu Rate ziehen. Oder die Tausende kleiner Bilder im Atlas von Richter: Das sind nicht nur Vorlagen und Erinnerungsräume des Malers, sondern auch das Mosaik einer Epoche.
Die documenta X will Ausdrucksfülle ausbreiten, um deutlich zu machen, wo die Zukunft des Bildes und der Kunst liegen können. Die hohe Kunst der Wahrnehmung – auch für die Probleme der Welt wird beim Durchgang eingeübt. Doch daran teilhaben kann nur, wer nicht nur das oberflächliche Erlebnis sucht.
Erst dann, wenn man entdeckt hat, daß in dem Raum von Olaf Nicolai das Leuchtbild einen Ausschnitt aus den Miniaturwäldern auf den Lavasteinen zeigt und daß die Tapete mit ihrem Pflanzen-Dekor wiederum ein Reflex auf diese Kunstlandschaften ist, befindet man sich auf dem Weg zum Verständnis dieser Arbeit.
HNA 24. 6. 1997