Die künstlerische Leiterin der documenta X, Catherine David, mag die documenta-Halle nicht besonders. Wahrscheinlich hat sie in Paris so intensiv mit modernen Ausstellungsbauten arbeiten müssen, daß sie nun lieber alte Architektur bevorzugt. Also glaubten anfangs Kulturpolitiker, sie müßten die Französin überreden, die 1992 eigens gebaute und viel gelobte Halle nicht links liegen zu lassen. Umso mehr überrascht, wenn zutreffen sollte, was der Informationsdienst Kunst bei dem deutschen Maler-Star Gerhard Richter erfahren haben will: Er werde sein 600 Tafeln umfassendes Projekt Atlas (Skizzen, Fotos, Collagen) höchstwahrscheinlich in der documenta-Halle zeigen. Der Atlas, vom Münchner Lenbachhaus erworben, werde in Kassel erstmals vollständig gezeigt. Für den Informationsdienst riecht die Serie dieser Bilder nach Werkstatt, und prompt folgt daraus der Schluß, den die documenta-Leiterin fürchtet, wenn einzelne Namen vorzeitig bekannt werden: …daß die documenta X eine gigantische Retrospektive kultureller Großtaten wird, garniert mit ein paar Liebenswürdigkeiten aus dem Künstlerhaus Stuttgart. Hätte man nicht doch Harald Szeemann verpflichten sollen, 25 Jahre nach seiner legendären d 5? So ist es: Aus den ersten Namen wird aufs Konzept geschlossen und über das Gelingen geurteilt. Catharine David wußte, was sie zu befürchten hatte. Trotzdem wird sie alle ihre Künstler nicht bis 1997 unter dem Deckel halten können.
Kluge Prinzessin
Aus der Sicht des Sonntagsblattes hingegen ist die Sache mit der Retrospektive ein Mißverständnis. Catherine David, so schreibt Anna Brenken in ihrem mit Kluge Prinzessin getitelten Bericht, habe eher eine RetroPerspektive im Sinn. Und sie zitiert die documenta-Macherin: So, als ob man in den Rückspiegel sieht, wenn man ganz schnell nach vorne fährt.
Für die Autorin ist Catherine David eine harte Arbeiterin und: Paris ist ein hartes Pflaster für Karrieren. Das hat Catherine David geschult. Also findet sie alle Gedankenspiele darüber abwegig, ob nun die documenta X zustande komme oder nicht. Und folglich schließt sie mit der hoffnungsvollen Frage. Sollten wir nicht schon jetzt höllisch neugierig sein auf dies Ereignis?
Auch Anna Brenken spielt das Spiel der Spekulationen um die teilnehmenden Künstler mit: Eine Prognose sei erlaubt: Jene drei Künstler, die David dort (in Paris) jüngst mit größeren Installationen ins Scheinwerferlicht hob – Robert Gober aus USA, Jeff Wall aus Kanada und Chantal Akerman aus Belgien – werden auch 1997 in Kassel dabei sein.
HNA 30. 3. 1996