Die verschobene Kunst-Perspektive

Catherine David hat die Aufgabenstellung der documenta verändert. In der kontroversen Diskussion wird dieser Gesichtspunkt kaum berücksichtigt. Eine dritte Annäherung an die Kunstschau.
Dienstagabend in der documenta-Halle: Der Andrang ist so groß, daß es Gedränge am Eingang gibt. Die Kopfhörer für die Simultanübersetzung reichen bei weitem nicht, denn sie werden von vielen gebraucht, weil der Urbanist Stefano Boeri seinen Vortrag in italienischer Sprache hält. Die Aussagen, die in der Übersetzung angeboten werden, bleiben zwar merkwürdig abstrakt, doch die Stichworte, die man erhält, führen in Verbindung mit den gezeigten Dias zu faszinierenden Einsichten.

Es geht um die Veränderung der Städte, um ihr Ausfransen und um den Verlust ihrer Mitte. Boeri kombiniert Nah- und Fernsichten – Bilder von Straßen- und Häuser-Details sowie Satellitenaufnahmen. Er beklagt nicht, sondern beschreibt und schärft die Wahrnehmung. Auch macht er darauf aufmerksam, wie sich unmerkliche Veränderungen vollziehen und wie sich trotz der chaotisch scheinenden Wucherungen individuelle Merkmale und Ordnungen behaupten.

Das war einer der Abende, an denen sich ganz von selbst ein zwingender Zusammenhang zwischen der Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ und der Ausstellung ergab. Einige von Boeris Bildern hätte man sich gut innerhalb einer Installation vorstellen können, umgekehrt knüpften seine Ausführungen an Bilder an, die in der documenta zu sehen sind.

Natürlich öffnet sich diese zweite Ebene der documenta in ihrer Vielfalt nur dem in dieser Region ansässigen Publikum. Die aus der Ferne anreisenden Besucher müssen sich mit ein, zwei Kostproben begnügen. Insofern ist es kein Wunder, daß die documenta-Kritiken die Erweiterung der Ausstellung um die Diskussions- und Filmreihe kaum registrieren. Verwunderlich hingegen ist, daß in der kontroversen Auseinandersetzung kaum zur Kenntnis genommen wird, wie sehr Catherine David die Perspektive der documenta verschoben hat.

Die Kunst war im Ausstellungsreigen der letzten Jahren immer in Gefahr, zum unterhaltsamen Selbstzweck und Dekor zu werden. Die Malerei, wie sie vom Kunstbetrieb gepflegt wird, drohte zuweilen beliebig zu werden. In dem italienischen Beitrag der jetzt laufenden Biennale in Venedig ist sie es auch geworden. Und wenn man sich vorstellt, diesen Sommer wäre in Fortschreibung von 1992 eine gereinigte, konzentrierte und aktualisierte Fassung der documenta IX zu sehen gewesen, wäre die Frage nach dem Sinn und Stellenwert dieser Ausstellung noch lauter gestellt worden.

Nun ist es zwar nicht so, daß die documenta X die Frage nach dem Wesen und den Ausdrucksformen heutiger Kunst außer Acht ließe. Doch sie geht von dem Prinzip ab, die im Kunstbetrieb sichtbaren Trends auswählend zu bestätigen oder zu widerlegen – nicht weil sie den Kunsthandel aus dem Tempel treiben wollte, sondern weil sie andernfalls auf diesem Feld kein Solitär mehr wäre. Die documenta X bricht die künstliche Isolation der Kunst auf und öffnet den Raum für den Austausch mit den angrenzenden kulturellen Bereichen.

Auch die documenta 8, um ein Beispiel zu nennen, suchte diesen Dialog. Aber die Architektur- und Design-Beiträge beschränkten sich auf fest umrissene Abteilungen. Jetzt aber wird die Auseinandersetzung mit der ausufernden Stadt und deren problematischen Rändern zu einem zentralen Thema, mit dem sich Beiträge von Künstlern ebenso beschäftigen wie von Filmemachern und Architekten. Und wenn unter dieser Aufgabenstellung der Blick zurück auf stadt- und gesellschaftskritische Arbeiten der 60er Jahre erfolgt, dann ist das nicht unbedingt eine romantisch verklärte Flucht in die Vergangenheit, sondern der Versuch, deutlich zu machen, daß die Kunst und deren Randbereiche durchaus die gesellschaftlichen Diskussionen befruchten können.

Wahrscheinlich verunsichert viele, daß der unerbittliche Zwang zur Auseinandersetzung stärker ist als das reine Vergnügen am künstlerischen Raum. Dieses Vergnügen gibt es allerdings auch. Man braucht nur an die Videoarbeiten und das verschlungene Rohrsystem von Matthew Ngui im Kulturbahnhof zu denken.

Rückgriffe in die Geschichte dienen stets dazu, bevorzugte Ausdrucksformen der Gegenwart zu legitimieren. Das ist auch bei dieser Ausstellung so: Die Räume von Lygia Clark, Helio Oiticica und Michelangelo Pistoletto weisen aus den 60er und 70er Jahren den Weg in die Gegenwart und darüber hinaus. Ähnliches gilt für die Fotoarbeiten von Walker Evans oder Gordon Matta-Clark. Trotzdem ist nicht nachvollziehbar, warum die Fotografie zulasten der Malerei so stark überrepräsentiert ist.

Das Konzept, die unterschiedlichsten Formen und Funktionen des Bildes zu dokumentieren, ist eben doch nicht konsequent umgesetzt. So fehlt weitgehend der breite Bereich, der sich auf der Basis der Fotografie entwickelt hat. Nicht die Tatsache, daß, wie einige Kritiker meinen, viele kleine Bilder in der documenta zu sehen wären, stört oder irritiert, sondern daß die dokumentarische Fotografie ein Übergewicht erhält. Verwunderlich ist auch, daß die documenta es nicht schaffte, das Fernsehen als ein Medium aktiv zu nutzen.

HNA 3. 7. 1997

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