Der Stellenwert heutiger Kunst

Nach der Vorlage der zweiten „documenta-documents“ lohnt sich die Frage, wo Catherine David mit ihrem Konzept für die documenta X ansetzt.

Als Arnold Bode und seine Freunde 1955 die erste documenta in Kassel vorbereiteten, hatten sie anfangs vor, ein Ereignis zu schaffen, das umfassend die Formen der Kunst spiegeln sollte. Es entstand dann allerdings eine reine Kunstschau, die helfen wollte, die Moderne kennenzulernen und zu verstehen. Auch die fünfte documenta (1972) unternahm einen gewaltigen Anlauf, die engen Grenzen des Kunstbetriebs zu überspringen. Angestrebt wurde eine Ereignis-Ausstellung, die eine Befragung (und Gegenüberstellung) der verschiedensten Bildwelten vornehmen sollte. Die documenta 5 glich in ihrem Anspruch einer Enzyklopädie, da sie vom aktuellen Foto-Realismus über den Kitsch bis hin zur Kunst der Geisteskranken alles spiegelte. Allerdings geschah das abteilungsweise. Die Zusammenschau vollzog sich nur im Katalog.

Sollte es Catherine David mit ihrer documenta X gelingen, das zu leisten, was schon die documenta 5 wollte? Zumindest in der Planungsphase scheint dies möglich. Ihr großer Vorteil ist dabei das vermeintliche Handikap – daß sie als Einzelgängerin die Großausstellung angeht. So kann nämlich aus einem Gedankengebäude die documenta entwickelt werden.

In dieses Gedankengebäude läßt nun Catherine David hineinschauen: In ihren „documenta-documents 2“, die sie am Montag, wie berichtet, vorlegte, präsentiert sie unter dem Titel „Die Aktualität des Bildes, zwischen den Schönen Künsten und den Medien“ Überlegungen, die sie gemeinsam mit Jean-Francois Chevrier erarbeitet hat.

Dabei wird folgendes sichtbar: Catherine David fragt nach dem Stellenwert heutiger Kunst. Diese Frage kann ihrer Meinung aber nur gestellt und beantwortet werden, wenn zugleich der Zusammenhang zur Massenproduktion der Bilder hergestellt wird.

Dies gilt nicht nur, weil die Bilderflut zum undifferenzierten Konsum verführt, sondern auch, weil sich die Kunst der neuen Bildmedien bedient und sie sich somit selbst verändert hat. Das bedeutet, daß es bei der documenta X im kommenden Sommer nicht um das bloße Aufzeigen aktueller Tendenzen geht, sondern um die Untersuchung, wie die Künstler im Laufe der letzten Jahre (und Jahrzehnte) die Bildsprache benutzt oder neu definiert haben. Das besondere Interesse der französischen Ausstellungsmacherin gehört in diesem Zusammenhang der Wechselbeziehung von Malerei, Fotografie und Film: Einerseits haben in den letzten 100 Jahren immer wieder (malende) Künstler ihr Werk in der Auseinandersetzung mit der Fotografie entwickelt, zum anderen haben sich Fotografen zunehmend der Ausdrucksmittel der Malerei bedient.

Ergänzend dazu beobacht David eine Aufwertung des Lichtbildes im Medium Film durch den Dokumentarfilm und auf dem Feld der Fotografie im nicht-journalistischen Reportagebild, das sich am Rande der Fiktion bewege. Diese Bilder der seien nicht nur im Bezug auf die klassische Kunst wichtig, sondern auch im Blick die Welt, denn in ihnen gehe es nicht nur um Form, sondern um Information.

HNA 26. 6. 1996

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