Die Frage nach Ort und Identität

Catherine David hat ihre ersten Arbeitspapiere vorgelegt: „documenta-documents 1“. Ein Heft, das
sich um das Selbstverständnis unserer Zeit dreht.

Die künstlerische Leiterin der Kasseler documenta X (1997), Catherine David, bleibt sich und ihren Grundsätzen auf eine erstaunlich konsequente Weise treu. Da, wo Antworten und Auskünfte von ihr erwartet werden, stellt sie selbst Fragen, und dort, wo andere an Künstler-Namen und -Techniken denken, beschäftigt sie sich mit dem Zustand und Selbstverständnis der Welt und deren Verhältnis zu Tradition und Gegenwart, zu Realität und Virtualität.

Anläßlich der Kunstmesse Arco stellte gestern Catherine David die erste Folge ihrer „documenta-documents“ in Madrid vor, um zugleich vor der internationalen Presse für die Kasseler Kunstschau zu werben. Zeitgleich wurde das im Stuttgarter Cantz-Verlag in Deutsch und Englisch erschienene Heft (68 5., 18 Mark) der deutschen Presse präsentiert.

Das Titelbild gibt die inhaltliche Tendenz vor: Zu sehen ist die ausschnitthafte Momentaufnahme von einem sich drehenden Kettenkarussell. Und der Leser der „documents“, der etwas über die kommende documenta erfahren will, steigt förmlich in ein Karussell, das sich ständig um die existentielle Fragen nach dem Ort, an dem man sich befindet, und nach der Identität, nach der man sucht, dreht. Das Heft bietet keine leichte Kost. Es birgt weder Unterhaltung noch Kunsttheorie. Vielmehr setzt es sich mit dem Geist einer Zeit auseinander, deren Bedingungen sich rasch und gründlich ändern, um auf diese Weise sichtbar werden zu lassen, aus welchem Geist die nächste documenta gestaltet wird.

Wer das Heft durchgearbeitet hat, weiß, daß Catherine Davids Anspruch, sich entschieden vom Medienrummel abzusetzen und keine Konsum-Kunst- Ausstellung zu präsentieren, ernst gemeint ist. Mit einer lange nicht mehr so eindringlich erlebten Hartnäckigkeit fragt sie nach dem Zustand einer Welt, die sich global und umfassend gibt, die gleichzeitig aber in lauter rivalisierende Einzelteile zerfällt und die dem Menschen seine angestammte (in der Heimat begründete) Identität genommen hat. Der im Exil lebende chinesische Dichter Yang Lian spricht in zwei Betrachtungen ebenso davon wie der Theaterautor Jean-Christophe Bailly, der mit Bezug auf Hölderlin über den „freien Gebrauch
des Eigenen“ schreibt. Die Texte haben natürlich mit der Planung der documenta direkt nichts zutun. Doch sind als modellhafte Annäherungen an die Ausste1lung zu verstehen. Am Ende ist klar: Die nächste documenta wird weder Kunst um ihrer selbst willen zeigen, um den Ausstellungsbetrieb einfach fortzusetzen. Offen ist allerdings, wie weit die Schau über den traditionellen Bereich der bildenden Kunst hinausgeht.
In diesem Zusammenhang ist das Gespräch interessant, das Catherine David mit dem Architekten und Philosophen Paul Virilio über den „blinden Fleck der Kunst“ geführt hat. Virilio spricht da vom
Verschwinden der Bilder und der Örtlichkeit in der virtuellen Welt. Für ihn ist die herkömmliche Kunst genauso tot wie Kino. Und da ist es amüsant sehen, wie die documenta-Leiterin auf der Präsenz von Kunst und Kino beharrt, wie sie ihr Unternehmen documenta verteidigt.

Die „documenta-documents“ sind angelegt wie jene Ausstellungskataloge oder Theaterprogramme, die zum eigentlichen Ereignis nichts sagen, es mit philosophisch-poetischen Anmerkungen weiträumig kreisen. Die Verortung findet über die beigefügten Bilder statt: Beiläufige Schwarz-Weiß-Fotos von Räumen, Straßen und Plätzen markieren die documenta-Achse, die vom Kasseler Hauptbahnhof über die Treppenstraße und am Fridericianum vorbei zur Aue gezogen werden soll. Außerdem sind Farbbilder des Künstlers und Architekten Erik Steinbrecher zu sehen, der in Kasselansichten verfremdende Architektur- und Personenporträts eingefügt hat: Auch im Bild ist eine ungefähre Annäherung möglich.

HNA 10. 2. 1996

Schreibe einen Kommentar