Die Stadt, das Leiden und die documenta

Es war naiv, zu meinen, man könne mit einer Erklärung, in der von Mißverständnissen die Rede ist, die abfälligen Worte aus der Welt schaffen, die Catharine David (so oder so ähnlich) über die documenta-Stadt Kassel gesagt hat. Das war wahrscheinlich genauso naiv wie ihre Annahme, sie könne im fernen Paris über die Eigenarten Kassels philosophieren, ohne daß davon etwas in der documenta-Stadt bekannt würde. Eine documenta-Leiterin mag sich weigern, die Zirkusdirektorin zu spielen, aber sie kann nicht daran vorbei, daß sie bei aller ihr zu- gestandenen Freiheit auch politisch, also taktisch agieren muß.

Die Geschichte der documenta ist reich an Auseinandersetzungen, die auch schon so tief gingen, daß die Ausstellung verschoben werden mußte. Doch in der Vergangenheit betrafen diese Streitereien immer die Inhalte: Die Konflikte hatten ihre Ursprünge im Streit um die Konzepte. Insofern eröffnet die documenta X ein neues Kapitel. Auch in der nunmehr dritten öffentlichen Auseinandersetzung geht es nur um Nebenkriegsschauplätze: Erst gab es den Kompetenzstreit zwischen Geschäftsführer Soukup und Kassels Kulturdezernentin, dann war die Vertrauensbasis zwischen David und Soukup dahin und nun machte sich die documenta-Leiterin in Kassel unbeliebt.

Die Köpfe werden darüber nicht nur in Kassel geschüttelt. Die Meinung ist ungeteilt: So geht man nicht mit einer Stadt um, die auf ein anspruchsvolles Kunstereignis eingestimmt werden soll, das sie mitzutragen hat. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob im Einzelfall die Urteile stimmen oder nicht. Im Gegenteil: Gerade weil viele Kasseler an den Unzulänglichkeiten der Stadt leiden, weil sie sich mit ihren Zweifeln oft selbst im Wege stehen, treffen die harten Worte doppelt. Schließlich setzt man ja gerade auf die documenta, weil sie helfen soll, sich der internationalen Beachtung zu vergewissern.

Catherine David macht die documenta nicht für die Stadt, sondern für die Kunstwelt. Daß diese Kunstschau aber ohne. den Ort nicht denkbar ist, weiß die Französin auch. Sonst hätte sie nicht in dem „stern“-Interview gesagt: ,,Kassel ist die Mutter aller Ausstellungen. In einer Zeit hysterischen Kultur-Konsums muß diese Stadt eine ganz besondere Rolle spielen.“

Gute Kunst und gute Ausstellungen brauchen Reibung. Nur aus der lebhaften Auseinandersetzung können vitale Lösungen entstehen. Aber der jetzt entflammte Streit setzt keine positiven Energien frei, sondern führt nur zu unnötigen Verletzungen. So bedarf es eines versöhnlichen Zeichens, damit der Arbeitsalltag der Ausstellungsvorbereitung wieder zum Thema wird. Dabei ist der Konflikt von Catherine Davids zentralem Thema gar nicht so weit weg: Da geht es nämlich um die Urbanisationen, die Vorstädte und Randgebiete.

HNA 13. 7. 1996

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