Publikumsmagnet documenta

Die Kasseler Uni bereichert nicht nur die Region, sondern macht die Region auch immer wieder zum Forschungsgegenstand – so etwa die Wirkungen der documenta.

Die langen Schlangen vor dem Museum Fridericianum sind in Erinnerung. Die documenta IX mit ihren 615 000 Besuchern stellte ihre Vorgängerinnen, was den Besucherandrang angeht, deutlich in den Schatten. Um nahezu 30 Prozent stieg das Besucher-Interesse gegenüber der documenta des Jahres 1987. Und wenn man noch bei dem Kasseler Wirtschaftsprofessor Gerd-Michael Hellstem liest, daß nach der Internationalen Automobilausstellung und der Grünen Woche die Kasseler documenta gemeinsam mit der Cebit 1992 zu den größten Ausstellungen des Jahres 1992 in Deutschland gehört habe, dann wird bewußt, welches Gewicht die Kunstschau hatte.

Nun ist über die Bedeutung der documenta IX viel gestritten worden. Ein Wirtschaftswissenschaftler wie Prof. Hellstern registriert einen solchen Streit, interessiert sich aber für ganz andere Fakten: Woher kommen die Besucher, welche Voraussetzungen bringen sie mit, wie schätzen sie die Rolle Kassels und der documenta ein, welche wirtschaftlichen Prozesse setzen sie in Gang und welchen ideellen und wirtschaftlichen Nutzen zieht Kassel daraus?

Die documenta IX war die erste Kasseler Weltkunstschau, die wissenschaftlich begleitet wurde. Hellstem hatte zu diesem Zweck ein Team gebildet, das eine Besucherbefragung sowie eine Tagung organisierte und das erstmals konkrete Daten zur Bedeutung und Wirkung der documenta in wirtschaftlicher Hinsicht und unter Image-Gesichtspunkten lieferte. Es war nicht das einzige Projekt, das sich mit den Problemen des Hochschulstandortes auseinandersetzte. So hatte Hellsterns Team in Abstimmung mit dem Magistrat einen Fragebogen für Kasseler Bürger erarbeitet, der helfen sollte zu erkunden, ob nach Einschätzung der Befragten Kassel „richtig liegt“.

In einem 1993 erschienenen Buchbeitrag (,‚Festivalisierung der Stadtpolitik“, Westdeutscher
Verlag, Opladen) hat Hellstem erstmals die Erkenntnisse seiner Forschungsgruppe ausgebreitet. Dank des statistischen Materials konnte Hellstern einige Vorurteile ausräumen. So stellte er etwa fest,
daß der Werbeaufwand der documenta IX mit 100 000 Mark vergleichsweise bescheiden gewesen sei.
Die Ausstellung habe vor allem davon profitiert, daß ihre Leitung immer wieder außerordentliche Ereignisse geschaffen habe (Marathon in Gent und Weimar) und daß sie inzwischen über einen wachsenden Besucherstamm verfügen könne.

Andererseits konnte er nachweisen, daß die Ausgaben keineswegs ins Uferlose gestiegen seien: Wenn man die Ausgaben in Beziehung zur jeweiligen Besucherzahl setze, dann seien 1992 die Aufwendungen pro Besucher sogar geringer als bei der documenta 3 (1964) oder bei der documenta 5 (1972) gewesen.

Das Bild, das Hellstern vom wiederaufgebauten Kassel zeichnet ist nicht gerade schmeichelhaft. Deutlich kritisiert er das architektonische Erscheinungsbild der Stadt. Andererseits registriert er einen klaren Image-Gewinn durch die documenta: Immerhin behaupten 55 Prozent der Bundesbürger, die documenta (dem Namen nach) zu kennen. Und unter den documenta-Besuchern des Jahres 1992 wiederum kann Kassel Punkte machen, was seine geografische Lage und was seine wirtschaftlich-kulturelle Bedeutung angeht.

Ein entscheidender Punkt der Untersuchung richtete sich auf die wirtschaftliche Bedeutung der documenta. Die ist nicht unerheblich: Immerhin kamen fast 90 Prozent der 615 000 Besucher von außerhalb. Etwa die Hälfte der Auswärtigen übernachtete mindestens einmal – davon allerdings 48 Prozent im Umland. Hellstern errechnete „gesamtwirtschaftliche Nachfrageeffekte“ durch die documenta-Besucher in Höhe von rund 49,2 Millionen Mark (Übernachtungen, Ausgaben für Verpflegung und anderes), so daß sich (über die Steuer-Rückflüsse) die städtischen Zuschüsse zur documenta etwa halbieren. Leicht ließe sich also eine positive Bilanz ziehen. Doch die verweigert Hellstern. Er bemängelt, daß die documenta noch nicht zu einer regional politischen Vernetzung geführt habe. Die spezifischen Fähigkeiten und Bedürfnisse seien bisher nicht aktiviert worden.

HNA 16. 9. 1996

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