Was bedeuten uns die Bilder?

Keine sechs Monate mehr bis zum Start der documenta X in Kassel. Allmählich
zeichnen sich die Konturen der Ausstellung ab, die Catherine David plant: Eine kritische
Uberprüfung der Bilder.

Gerhard Richter ist ein Künstler, der so radikal wie kein zweiter die Mittel und Möglichkeiten der Malerei und des Tafelbildes ausgelotet hat. Er hat, so scheint es, alles gemalt, hat sich in vielen Stilen und Handschriften geübt und hat doch ein geschlossenes, enzyklopädisches Werk geschaffen.

Von ihm gibt es ganz strenge fotorealistische Bilder – etwa die Darstellung einer brennenden Kerze. Dann wieder hat er (schwarzweiße) Porträtreihen gemalt, die zwar auch dem Mitteilungsgehalt der Fotografie verpflichtet sind, die sich aber durch eine irritierende Unschärfe auszeichnen. Daneben hat er mit berauschend farbigen abstrakten Gemälden fasziniert, hat schlammige einfarbige Kompositionen geschaffen und völlig unpersönlich wirkende Farbtafeln. Er hat sich auch die Malerei verweigert, indem er Spiegel als Bildformate ausstellte.

Dieser Gerhard Richter gehört seit 1972 zu den Künstlern, die regelmäßig zur Kasseler documenta eingeladen wurden. Wenn er an der nächsten documenta teilnimmt, fällt ihm eine Schlüsselrolle zu. Dabei sind es keine neueren Gemälde, die von ihm gezeigt werden, sondern der im Laufe von vielen Jahren herangewachsene Werkkomplex „Atlas“, der aus 600 Tafeln besteht, vom Münchner Lenbachhaus angekauft wurde und in Europa noch nie vollständig zu sehen war.

Diese Tafeln enthalten Werkstattmaterialien Richters – Skizzen, Fotos und Collagen, Fundstücke und Entwürfe also, die in den Grenzbereich zwischen Wirklichkeit und künstlerischer Erfindung verweisen. Warum dieser Griff nach einem Werkkomplex, der nur den Hintergrund für die „fertigen“ Gemälde bildet? Weil möglicherweise in diesen Werkstattarbeiten das sichtbar wird, was Catherine David in der documenta vorführen will: Welche Rolle den künstlerischen Bildern in einer Zeit zukommt, in der wir von visuellen Informationen überflutet werden.

In ihrem Arbeitspapier, dem zweiten Heft der „documenta-documents“ (Cantz Verlag), hat Catherine David (gemeinsam mit Jean-Francois Chevrier) zur „Aktualität des Bildes – zwischen den Schönen Künsten und den Medien“ Stellung bezogen. Darin stellt sie drei Thesen auf: Jede künstlerische Bildproduktion kann nur im Zusammenhang mit der Massenflut der Bilder betrachtet werden; das traditionelle Tafelbild hat auf überraschende Weise überlebt, wobei auch andere Medien als Malerei zum Tafelbild führen können. Information ist wieder zum Kriterium für die Bewertung von Bildern geworden.

Information (verstanden als ein Mittel, um zur Wahrheit zu gelangen) ist hier aber nicht im vordergründigen Sinne gemeint, also gedacht ist nicht an die zielgerichteten (und dabei ästhetisch schönen) Informationen der Werbung und des Fernsehens. Da Kreativität nicht ein Privileg der Kunst ist, denkt Catherine David eher an Bilder, die im Unscheinbaren das Besondere freilegen und die auch solche Informationen transportieren, die sie nicht direkt zeigen. Die documenta X wird also über die klassischen Sparten hinaus Bilder auf ihre Bedeutungskraft untersuchen. Fotografie, Video, Film und Internet treten gleichberechtigt neben Malerei und Plastik. Andererseits wird die kritische Auseinandersetzung der Bilder mit der Wirklichkeit, wie sie sich in den Metropolen und Randstädten darstellt, ein zentralerAspekt sein.

Die Untersuchung der Bilder wird sich in zwei gegenseitig bedingenden Strängen abspielen – in einem Ausblick, der auf einem Rückblick basiert. „Retroperspektive“ heißt das Stichwort, und zur Veranschaulichung hat Catherine David (filmgemäß) das Bild eines Autofahrers gewählt, der nach vorn blickt und fährt und sich zugleich im Rückspiegel orientiert. Obwohl die Liste der rund 150 Künstler, die eingeladen werden, noch unter Verschluß gehalten wird, sind einige Namen – auch offiziell – bekannt: Gerhard Richter, Marcel Broodthaers, Gordon Matta-Clark und Öyvind Fahlström werden vier Eckpfeiler der Ausstellung sein. Des weiteren werden höchstwahrscheinlich Beiträge von Dan Graham, Michelangelo Pistoletto, Jeff Wall, Bruce Nauman, Martin Kippenberger, Olaf Nicolai, Christian Philip Müller, Lois Weinberger, Hele Levitt, Peter Kogler, Jean-Luc Godard, Chantal Akerman, Raoul Peck und Richard Dindo dabei sein. Was die kommende documenta grundsätzlich von ihren Vorgängerinnen unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Ausstellung selbst nur einen Teil des Unternehmens darstellt. Catherine David peilt eine Bestandsaufnahme heutiger Kultur an und will dabei neben der Bildenden Kunst Film und Theater ebenso nutzen wie das Gespräch. So wird die Veranstaltungsreihe „100 Tage – 100 Gäste“, in der Philosophen, Filmemacher, Architekten, Schriftsteller, Politiker und Künstler zu Fragen der Zeit in der documenta-Halle Position beziehen sollen, gleichrangig neben der Ausstellung organisiert.

Man darf gespannt sein, wie sich der Widerspruch auflöst, der sich im Moment abzeichnet. Auf der einen Seite ist die documenta-Idee so populär nie zuvor und wollen die verschiedensten Institutionen
Kassel an einem umfangreichen documenta-Beiprogramm mitwirken. Auf der anderen Seite setzt das Verstehen und Erleben der documenta nicht nur Sensibilität für ungewohnte Bildsprachen, so dem auch Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Text und Theorien voraus. Allerdings wird der geplante Ausstellungsparcours vom Hauptbahnhof über die Treppenstraße zum Fridericiarium, dem Ottoneum und zur documenta-Halle bis hin zum Fulda-Ufer eine klare, sinnliche Orientierung und damit Halt geben.

HNA 31. 12. 1996

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