Wir sind nicht da, etwas Hübsches zu machen

Welches Verhältnis hat die documenta X zur Stadt? Welche Erwartungen werden an die Besucher gerichtet? Ein Redaktions-Gespräch mit documenta-Leiterin Catherme David.

Frage: Die documenta ist ein Höhepunkt für Kassel. Was kann die Stadt zum Gelingen der Ausstellung beitragen?

David: Eine der Möglichkeiten wäre, die documenta nicht immer als eine Ausnahme zu sehen. Es wäre gut, wenn es eine größere Kontinuität in der Kulturarbeit, bei der Beschäftigung mit Kunst geben könnte. weil die documenta etwas Außerordentliches ist, ist ihre Durchführung so kompliziert.

Nun gibt es aber die gegenteilige Meinung: Die documenta sei in Kassel nur deshalb möglich, weil es dort keinen großen Kunstbetrieb gebe.

David: Wenn das so wäre, dann wäre das nicht vernünftig. Vor 45 Jahren konnte die documenta etwas Exotisches sein. Heute sollte sie etwas Selbstverständliches sein. Dafür kann aber
nicht die künstlerische Leitung sorgen, die von außen kommt, sondern das ist die Aufgabe der Stadt.

Es ist ja nicht so, daß überhaupt nichts da wäre, aber eben nicht auf dem Weltniveau.

David: Es darf nicht sein, daß die documenta wie vom Mond in Kassel landet. Es geht nicht um Highlights, sondern um beständige Auseinandersetzung.

Was erwarten Sie aber für die bevorstehende documenta von der Stadt?

David: Alles, was wir bisher von der Stadt wollten – an Gebäuden und an Genehmigungen
– ist uns sehr großzügig gewährt worden.

Haben Sie Wünsche an die Bürger der Stadt?

David: Die Frage betrifft auch uns – wie wir kommunizieren. Es müßte klar sein, daß es nicht um schön, groß und teuer geht. Es sollte also nicht nur der Rahmen und das Spektakel gesehen werden, sondern auch das Inhaltliche: Warum machen wir so etwas heute?

Im Sommer dieses Jahres gab es einige Irritationen im Zusammenhang mit ihren Interview-Äußerungen über Kassel. Welches Verhältnis haben Sie im Moment zur Stadt und ihren Menschen?

David: Man könnte einen ganzen Nachmittag mit diesem Thema verbringen. Aber ich möchte noch einmal sagen, daß das ein Unfall war. Es gab Mißverständnisse, und der Bericht im FAZ-Magazin wurde nicht gegengelesen. Es hat aber vorher und nachher viele Gespräche mit der Stadt gegeben, die ganz normal waren und in denen unsere Pläne auf großes Interesse gestoßen sind. Aber zu meinem Verhältnis zur Stadt gehört auch, daß ich keine Politikerin bin. Ich bin nicht hergekommen, um wiedergewählt zu werden, sondern um eine Arbeit so gut wie möglich zu erledigen.

Wie beeinflußt der Ort die Ausstellung?

David: Jede documenta hatte mit der Stadt zu tun. Aber ich habe mich oft bei früheren documenta-Besuchen nur schwer orientieren können. Mir geht es deshalb darum, eine präzise Ordnung zu schaffen, die es den Besuchern ermöglicht, sich schnell zurechtzufinden. Deshalb haben wir den Parcours entwickelt, der dazu einlädt, sich mit der Stadt und ihrer Geschichte zu beschäftigen. Und deshalb ist auch der Bahnhof dazu gekommen, der die Anordnung der Werke entscheidend verändert. Angesichts der Tatsache, daß das urbane Prinzip immer wichtiger wird, daß immer mehr Menschen in städtischen Räumen leben und daß dieses Prinzip großen Einfluß auf die Arbeit der Künstler hat, ist es für uns wichtig, über Kassel und seine Strukturen nachzudenken.

Wieso ist der Bahnhof Ausgangspunkt?

David: Viele Leute waren nicht damit einverstanden, daß wir gerade den alten Bahnhof und die Unterführungen ausgewählt haben. Es gäbe in der Stadt doch viel Schöneres. Aber wir sind nicht dazu da, um etwas Hübsches zu machen, sondern um auf Vorhandenes hinzuweisen. Der Bahnhof und die Treppenstraße sind nun einmal historisch, kulturell und politisch ein ganz wichtiger Teil dieser Stadt. Und diese Situationen finden Eingang in Arbeiten von Künstlern. Wir machen auf dem documenta-Parcours ja keinen Verdauungsspaziergang.

Wie erfahren auswärtige Besucher den Parcours als einen Schnitt durch die Stadtgeschichte?

David: Da gibt es vier verschiedene Möglichkeiten:
1. Natürlich muß die Ausstellung gekennzeichnet sein – auch der Weg durch sie.
2. Wir werden ein Buch publizieren, das ein wesentlicher Teil der documenta sein wird. Manches wird sich beim Nachlesen erschließen.
3. Wir werden Empfehlungen geben, wie man den Parcours absolvieren sollte.
4. Wenn die Ausstellung im Bahnhof beginnt und man bedenkt, was ein Bahnhof in der Geschichte und im Leben bedeutet, dann ergeben sich Assoziationen von selbst. Aber wir können nicht zu allem Anleitungen geben.

Wie sieht das Katalogbuch aus?

David: Es wird kein Katalog sein, sondern unabhängig von der Ausstellung ein eigenes Buch. Es wird die Ausstellung unterfüttern. In ihm wird eine Bilanz am Ende des Jahrhunderts gezogen: Wie entwickelte sich die kritische Kunst von 1945 bis 1997? Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte:
1945-1968, 1968-1989 und 1989-1997.

Wie können sich Besucher, die keine Kunstexperten sind, auf die documenta vorbereiten?

David: Es gibt die klassischen Hilfsmittel wie Kurzführer und Beschilderung. Außerdem ist es wichtig, die Menschen vorzubereiten und nicht die Werke. Denn bei der Auswahl der Werke darf man keine Konzessionen machen. Andererseits weiß man, daß die Besucher aus sehr unterschiedlichen Gruppen bestehen. Wollte man es allen recht machen, dann machte man es niemandem recht. Deshalb ist für diese documenta am Beispiel von Gerhard Richters Bildtafeln „Atlas“ eine wichtige Entscheidung getroffen worden. Es kann sein, dass die Fachbesucher stöhnen werden: das haben wir doch schon in New York gesehen. Aber das große Publikum kann die komplette Arbeit erstmals sehen. Weil wir „Atlas“ als sehr wichtig für die Nachkriegsgeschichte ansehen, wird die Arbeit ihren Platz in der documenta haben.

Wie beugen Sie der Fachkritik vor?

David: Die Kollegen, die stöhnen, müssen darüber nachdenken, wie man mit Kunst umgeht. Wenn sie in dieser documenta 15 interessante Arbeiten von jungen Künstlern für sich entdecken, ist das eine Menge.

Haben Sie eine Vorstellung vom idealen Besucher?

David: Es ist nicht möglich, vom idealen Besucher zu träumen. Wir müssen für die unterschiedlichsten Menschen und Interessen planen.

Wird die documenta ein Fest für die Augen?

David: Wenn damit gemeint sein sollte, daß es überall glänzt und scheint, dann nicht. Am Ende des Jahrhunderts werden wir überschüttet von Bildern. Paradoxerweise sind aber viele Kunstwerke nicht vom Visuellen geprägt. Die Ausstellung wird aber nicht trocken: Sinnlichkeit und Intellektualität sind kein Widerspruch, wie man beim Werk von Marcel Duchamp sieht.

Wieviel Zeit sollte man sich mindestens für die documenta nehmen?

David: Das hängt vom Interesse und der Geschwindigkeit des Besuchers ab. Wir brauchen beim Gang über den Parcours drei Stunden – ohne daß Kunstwerke zu sehen sind. Fünf Stunden sind wohl nötig.

Ist die documenta überhaupt mit einem Besuch zu erfassen?

David: Auch der leistungsfähigste Besucher der Welt wird nicht alles sehen können. Die documenta kann sich nicht vom Widerspruch befreien, daß es in ihr Arbeiten gibt, die die unterschiedlichsten Zeiträume beanspruchen. Es gibt Dinge, die man in zwei Minuten sehen kann, und andere, für die man drei Stunden braucht. Wir bemühen uns aber, alles zu erschließen und zu vernetzen, so daß man den Zusammenhang verstehen kann, auch wenn man nicht alles sieht. Es sind immer zwei Ebenen: Die Kenntnis der Kultur und die Frage der Umsetzung am konkreten Ort. Außerdem enthält der Kurzführer alle Namen in strikter alphabetischer Reihenfolge: Wenn man also den Fotokünstler Jeff Wall sucht oder unter den 100 Gästen in der documenta-Halle den Literaturprofessor Edward Said, dann bekommt man klare Hinweise, wann und wo man sie findet.

Welche Gewichte haben einzelnen Standorte?

David: Es ist verfrüht, die einzelnen Räume zu charakterisieren. Obwohl die Planung weitgehend festliegt, kann sich noch manches ändern. Klar ist aber, dass das Museum Fridericianum der Ort für ältere und fragile Arbeiten sein wird, die aus Museen kommen. Dort werden wir uns darauf konzentrieren, die unterschiedlichen Methoden beim Umgang mit Bildern zu dokumentieren. Man kann das aber bei einer so großen Ausstellung schwer einhalten, daß in einem Haus nur ein Aspekt gezeigt wird.

Ist die Untersuchung der Funktion und Form des Bildes nicht Generalthema der documenta?

David: Es gibt nicht ein Thema. Es ist sicher richtig, daß wir über die Funktion des Bildes nachdenken. Aber wir werden niemals Künstler deshalb nicht einladen, weil sie nicht mit Bildern arbeiten, sondern weil sie andere Ausdrucksformen suchen. Genauso wichtig ist aber die Frage nach dem Verhältnis zur urbanen Welt.

Stellen sich die aktuellen Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit nicht überall?

David: Sie haben recht, doch gerade die Städte stiften heute Identität. In Brasilien, wo ich gerade war, reden die Einwohner gar nicht mehr von ihrem Staat, sondern von Großstädten wie Rio oder Sao Paulo.

Wie politisch ist die documenta?

David: Sie kann politisch sein – nicht aber in dem Sinne, daß ein Maler aus Ruanda eingeladen wird. Die documenta als politische Plattform könnte darauf aufmerksam machen, daß Konflikte wie in Ruanda oder im Libanon nicht ethnischer, sondern ökonomischer Natur sind.

In der documenta-Halle planen Sie die Reihe „100 Tage – 100 Gäste“. Wer wird der erste, wer der letzte Gast sein?

David: Das ist schwieriger als die Frage nach der Künstlerliste. Die Namen sind schnell zu nennen, aber schwer auf einen Termin zu verpflichten. Diese kulturellen Akteure sollen zusätzliche Informationen über den Zustand der Kultur in der Welt einbringen. Es werden Autoren, Filmemacher, Musiker, Architekten, Philosophen, Wirtschaftswissenschaftler und auch Politiker sein – auf dem Niveau der Ausstellung. Aber der Auftakt und der Abschluß werden mit sehr bekannten Gästen stattfinden.

Stehen schon einige Gäste fest?

David: Ja, viele. Aber wir haben große Terminprobleme. Mit diesen Problemen gehen wir schlafen und wachen wir auf. Wir mußten schon viele Male umbuchen. Manche der Gäste würden wir gerne zusammen einladen, weil sie sich sonst nie sehen; manche wissen gar nicht, was documenta ist.

Welche Vorgaben gibt es für die Gäste?

David: Sie haben keine Vorgaben. Sie werden drei Tage vor ihrem Auftritt in der documenta-Halle nach Kassel kommen und sich die Ausstellung ansehen. Aber sie sollen nicht über die Ausstellung sprechen, sondern über die kulturelle Situation und damit die Ausstellung ergänzen. So möchten wir gerne den nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka einladen – auch weil aus seinem Land kein Künstler in die Ausstellung kommt.

Wie wird zahlenmäßig das Verhältnis zwischen Künstlern und Künstlerinnen sein?

David: Das weiß ich nicht. Der Anteil der Künstlerinnen ist für mich kein Kriterium.

Sie haben in einem Interview die documenta als kulturelle Manifestation bezeichnet. Weiche Rolle spielt das autonome Kunstwerk?

David: Ich weiß gar nicht, was ein autonomes Kunstwerk ist. Auch wenn Mondrian behauptet, seine Werke seien autonom, dann weiß man ganz genau, daß sie es nicht sind. Autonome Werke gibt es nicht. Allerdings habe ich auch kein Interesse an Kunst, die als soziales oder politisches Design geschaffen worden ist.

Wie sind Sie zur Kunst gekommen?

David: Als ich jung war, habe ich mich sehr mit dem Goldenen Zeitalter Spaniens beschäftigt und war schon sehr früh konfrontiert mit sehr starken Werken. Aber eigentlich weiß ich es auch nicht, warum es sich so entwickelt hat. Doch ich weiß, daß mit Kindern ins Museum zu gehen, nicht der allein seligmachende Weg ist, sie zur Kunst zu bringen.

Was kann man im Kunstbetrieb mehr erreichen, als eine documenta zu gestalten?

David: Die documenta zu machen ist nicht das Größte. Es gibt auch viele andere Orte, auch kleinere, wo man eine wunderbare Arbeit machen kann. Das muß nicht ein Museum sein.

Catherine David
Im März 1994 wurde Catherine David als künstlerische Leiterin der documenta X (21. Juni bis 28. September 1997) berufen. Sie ist die erste Frau in diesem Amt und zeichnet sich dadurch aus, daß sie zwar einen Berater- und Mitarbeiterstab gebildet hat, die Auswahl der documenta-Künstler und -Gäste aber ohne die Mithilfe weiterer Kuratoren bewältigt.

Catherine David wurde 1954 in Paris geboren und studierte Literatur, Spanisch, Portugiesisch und Kunstgeschichte. 1981 ging sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin ans Centre Pompidou, zehn Jahre später wechselte sie in die Ausstellungsleitung der Pariser Kunsthalle Jeu de Paume.

Die documenta X plant Catherine David als umfassendes Ereignis, das neben der Ausstellung Theater- und Filmvorführungen ebenso umfassen soll wie Vorträge und Diskussionen zum Zustand der Kultur am Jahrhundertwende. Die documenta legt sie als eine „Retroperspektive“ an – als eine Vorausschau auf die kommende Kunst (und Kultur), die eine wertende Rückschau auf die vergangenen 30 Jahre einschließt.

HNA 27. 11. 1996

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