Eine Rechtfertigung der Moderne

In einer Artikelserie wollen wir zur documenta X hinführen, die am 21. Juni beginnt. Wir starten mit einem Rückblick auf die vorausgegangenen neun Ausstellungen. Heute: documenta 1 (1955).

Die kommende documenta (21. Juni bis 28. September) verleitet zum Bilanzieren: Sie ist die zehnte Ausstellung und sie ist zugleich die letzte in diesem Jahrhundert. Dieser Tatsache trägt die Französin Catherine David Rechnung, indem sie die documenta X als „Retroperspektive“ plant, als einen Blick, der zurück und nach vorn gelenkt wird: Aus dem Blick nach hinten sollen Gegenwärtiges und Kommendes verständlich werden.

Obwohl die Voraussetzungen im Jahre 1955 völlig andere waren als heute, war die Ausgangshaltung ganz ähnlich: Arnold Bode, Professor an der Kasseler Werkakademie, und seine Freunde hatten, als sie die documenta aus der Taufe hoben, keine bloße Rückschau auf die Anfänge der Moderne im Sinn. Sie dachten an eine auf die Gegenwart bezogene Bestandsaufnahme. Wörtlich hieß es im ersten Exposé: „Die Ausstellung sollte nur Meister zeigen, deren Bedeutung nach strenger Auswahl unbestreitbar ist…“

Wichtiger noch als der Wunsch, die von den Nazis verbannte Moderne wieder sichtbar zu machen, war der Vorsatz, der damals heftig umstrittenen (abstrakten) Gegenwartskunst durch die Einbeziehung der Vorläufer die notwendige Rechtfertigung zu verschaffen. Wie stark der aktuelle Bezug war, belegt die Tatsache, daß 279 der damals gezeigten 670 Werke nach 1945 entstanden waren.

Die documenta-Gründer hatten die Bundesgartenschau von 1955 als Vehikel benutzt, um die Kunstausstellung organisieren zu können. So erhielten sie Gelder von der Stadt, vom Bund (je 50 000 Mark) und vom Land Hessen (100 000 Mark).
Die Nähe Kassels zum damaligen „Eisernen Vorhang“, der Osteuropa abschottete, hatte die Förder-Entscheidung gewiß erleichtert. Aber noch bevor der Erfolg der documenta absehbar war, hatte Bode an einen festen Rhythmus gedacht. Er, der bereits in den 20er Jahren an Ausstellungen der Moderne in der Kasseler Orangerie mitgewirkt hatte, schlug in einem der ersten Konzeptpapiere einen Vier-Jahres-Turnus vor.

Die erste documenta hatte ursprünglich alle Künste spiegeln sollen. Sie konzentrierte sich dann aber auf Malerei und Plastik. Man dachte zwar noch in nationalen Kategorien, aber die Auswahl war keineswegs so international breit gestreut wie bei den Nachfolgeausstellungen: Die Deutschen gaben den Ton an, gefolgt von Italienern und Franzosen. vor allem die amerikanische Kunst, die später in den Vordergrund rücker sollte, war unterbelichtet.

Ihren Erfolg hatte die documenta wohl drei Eigenschaften zu verdanken – dem offenen Konzept, der Faszination des Ortes, den man in dem nur provisorisch wiederhergestellter Museum Fridericianum fand, sowie Bodes vorzügliche Ausstellungs-Inszenierung und Lichtregie mit Hilfe schwarzer und transparenter Vorhänge.

documenta 1 (1955): 670 Werke von 148 Künstlern, 130 000 Besucher, Etat: 379 000 Mark, davon 200 000 Mark Zuschüsse, Katalog als Reprint im Prestel-Verlag 39,80 Mark.

HNA 8. 1. 1997

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