Die Ausstellung als Unterhaltungsmaschine

Mit der documenta 4 (1968) begann ein neues Kapitel in Kassel: Die Kunst der Gegenwart rückte ins Zentrum. Trotzdem und deswegen gab es reichlich Proteste.

Es war die Zeit des Aufruhrs und der Proteste. Der Kunstbetrieb blieb nicht ungeschoren, auch wenn Arnold Bode im Katalog vorweg beteuert hatte: „Zum Establishment gehört auch diese documenta nicht.“ Aber bevor politisch-kritische Künstler und Studenten die documenta-Pressekonferenz umfunktionierten und die feierliche Eröffnung platzen ließen, hatte es erst einmal heftige Kritik von innen gegeben. Arnold Bode und sein Organisationsgremium, der documenta-Rat, waren in die Schußlinie geraten, weil sie ihre vierte Ausstellung der Gegenwartskunst öffnen wollten.

Nachdem der „Chefideologe“ der ersten drei documenten, Werner Haftmann, als Garant der alten Linie aus dem documenta-Rat ausgeschieden war, weil er die Leitung der Berliner Nationalgalerie übernommen hatte, traten nun Werner Schmalenbach und der Maler Fritz Winter aus Protest aus – da sie einen Qualitätsverlust befürchteten.

Bode und sein neuer Hauptmitstreiter, der Eindhovener Museumsdirektor Jean Leering, gingen unbeirrt ihren Weg. Sie konzentrierten sich auf die Kunst von 1964 bis 1968 und entwarfen damit ein Gegenmodell zur documenta III. Statt von Meisterwerken und individueller Handschrift war nun auch von Serienherstellung, Objektcharakter und Vorrang des Materials die Rede. Die documenta 4 schien sich ganz dem Geist der Zeit hinzugeben. Doch als die Ausstellung stand, drohten ihre Veranstaltungen im Protesthagel unterzugehen. „Prof. Bode, wir Blinden danken Ihnen für diese schöne Ausstellung“, stand auf einem Transparent bei der Pressekonferenz zu lesen. Wolf Vostell und Jörg Immendorff (beide auf späteren documenten gut vertreten) protestierten mit anderen dagegen, daß die Aktions- und Fluxuskünstler sowie die politisch-kritische Kunst ausgesperrt blieben.

Die vierte documenta war ungewöhnlich und verhalf der Ausstellungsidee zu einem Popularisierungsschub. Keine andere documenta spiegelte so ausschließlich die Kunst einer Dekade wie die von 1968, und diese Kunst war, wenn sie auch nicht immer verstanden wurde, vielfach unterhaltend und ästhetisch schön. „Love“ verkündete Robert Indianas rot-blaugrüne Farbtafel, Andy Warhol ließ zehn Marilyn-Köpfe in allen Farben leuchten, in Christian Megerts „Spiegelkabinett“ verlor man die Orientierung und mit einem gewissen
Schaudern begaben sich die Besucher in den Edward Kienholz-Raum „Roxys“.

Die Ausstellung war zur großen Unterhaltungsmaschine geworden. Die Skulpturen – vielfach in Signalfarben – lösten sich von der Orangerieruine und eroberten die Aue. Und wochenlang hielt dort Christo die Kunstwelt mit der Frage in Atem, ob er es schaffen würde, seine als „Wurst“ und „Phallus“ veralberte, 85 Meter hohe Skulptur verpackter Luft zum Stehen zum bringen. Im vierten Anlauf hatte er Erfolg.

Es waren die Amerikaner, die die documenta 4 prägten und die Schlagworte vorgaben:
Pop-art und Farbfeldmalerei, Minimal-art und Op-art. Die Riesenformate beherrschten die Szene; gezeigt wurde vor allem museumsgerechte Kunst. Zum Ereignis wurden die begehbaren Kunsträume, die nun als „Environments“ Schule machten. Aber auch der seit der documenta 1959 oft geäußerte Vorwurf, die Kasseler Ausstellung sei vom Kunsthandel abhängig, schien sich zu bestätigen,
als klar wurde, daß die Künstlerliste in vielen Positionen mit der Einkaufsliste des Sammlers Peter Ludwig übereinstimmte.

Indem die documenta die marktgerechte Pop-art zelebrierte, deutete sie auch deren allmähliche Verdrängung an. Die Ausstellung verstand sich als Momentaufnahme, sie verpaßte aber die Ansätze neuer Tendenzen. Joseph Beuys war zwar vertreten, aber das neue Verständnis, für das er stand, wurde kaum diskutiert. Trotz aller Kritik: Die documenta 4, im Fridericianum, vor der Orangerie und in der heutigen Neuen Galerie veranstaltet, wurde zum überwältigenden Medienerfolg. Sie war außerdem die erste mit einer Besucherschule von Bazon Brock.

4. documenta (1968): 1000 Werke von 152 Künstlern. 207 000 Besucher. Etatansatz: 2,104 Mio. Mark, Kosten: 2,146 Mio. Mark. Erlöse und Spenden: 1,087 Mio. Mark, Zuschüsse 1,1 Mio. DM. Gewinn: 41 000 Mark.

HNA 17. 1. 1997

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